Auf der Borderline nachts um halb eins.- Teil IV

18.06.2007 02:06 (zuletzt bearbeitet: 18.06.2007 02:11)
#1 Auf der Borderline nachts um halb eins.- Teil IV
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Forums-Senator/in
http://taz.de/blogs/lottmann/2007/06/17/...er-sozialismus/

Für Manza und Dama: Vorsicht Ironie ...

Gefällt mir sehr gut, da Lattmann mit seiner hinterhältigen Ironie viele Missverständnisse und moralische Abgründe der Kubabesucher aufdeckt ...



Auf der Borderline nachts um halb eins.

« …und weiter…

11. Kapitel: der Sozialismus!

In Antwort auf:
Er saß unter der überdachten Terrasse vor dem Hotel in einem überdimensionalen Korbsessel und trank einen Daiquiri. In Gedanken ging er nochmal die einzelnen Stationen der letzten Nacht durch, die ganz besonders schön gewesen war. Schon der frühe Abend hatte mit einem herrlichen Spaziergang durch die Shopping Mall „Ospido“ begonnen. Shopping gehörte einfach zum Urlaub dazu, und so war er in die Ospido eingefallen, die Taschen voller Geld, den Kopf voller Kauflaune, das Selbstbewußtsein luftballongroß aufgeblasen. Havannas berühmte Shopping Mall war nun aber die einzige auf dem Globus, in der es nichts zu kaufen gab. FAST nichts. Man fand dann doch ein Geschäft, das Bleistifte und Radiergummis hereinbekommen hatte. In einer Buchhandlung erstand Ricardo eine neue Karl-Marx-Ausgabe, 2007 gedruckt, ganz in Weiß, wunderschön. Ein fliegender Händler verkaufte gebrauchte Mineralwasser-Einwegflaschen, ein Gut, das jeder gebrauchen konnte, der es noch nicht hatte. Es gab auch Ansichtkarten mit den Motiven Ché oder Fidel, wobei die von Ché überwogen. Auf ein Fidel-Motiv kamen sieben Ché-Motive. Ricardo bevorzugte aber Fidel und kaufte zwanzig Stück davon. In der Heimat würde sich jeder aufrechte Linke darüber freuen, wenn die Kartengrüsse dann im Oktober ankamen.


Herrlich, diese bewusst falsche Verwendung spanischer Namen ... Hat doch glatt so ein kleinkarierter Idiot dieses Manko kritisiert .. (typisch deutsch)

In Antwort auf:
Ganz allmählich begriff Ricardo Rúiz, dass nicht Fidel Castro, sondern Ché Guevara in Kuba wie Jesus Christus verehrt wurde. Es liefen jeden Tag Sondersendungen über ihn mit den wenigen, immer gleichen, ikonographischen Aufnahmen. Es gab authentisches Filmmaterial von insgesamt vielleicht 20 Minuten, und das mußte immer wieder verwendet und neu callagiert, überblendet, zu ´stills´ angehalten werden. Wenn man es einfach als Gottesdienst verstand, als tägliche Frühmesse für den einfachen, gläubigen Kommunisten, machte die gezielte Wiederholung sinn. Bei jedem Ritaul in jeder Religion war die Wiederholung das Wichtige und Eigentliche. So mußten auch in Deutschland Fußballspieler in Spielerinterviews immer dieselben Sätze sagen („Habe Vertrag bis 2008, aber wichtig ist die Mannschaft“) und durften von dieser Liturgie nicht abweichen. Ein einziger „eigener“ Satz, und der Ketzer würde aus dem Kader geworfen und müßte für den Rest seiner Karriere bei der Bild Zeitung für Mario Basler den Kaffee holen.


Das war für dama & co.

In Antwort auf:
Alle 20 Schritte hörte man eine Live Band spielen, jedes Restaurant, jede Bar hatte das, wahrscheinlich um die Energie zu sparen, die eine elektronische Musikanlage gekostet hätte. Es waren immer vier bis sechs Leute, die herzerweichende Schlager zum Besten gaben. Ricardo verstand die Texte natürlich nicht, aber die Sänger sangen so leidenschaftlich, dass es sicher wieder um die Erhebung der Arbeiterklasse und die bevorstehende Weltrevolution ging. Einmal glaubte er das Horst-Wessel-Lied zu erkennen, aber es mußte sich selbstverständlich um eine Umdichtung handeln. Oder es war das pathetische Original, und das Horst-Wessels-Lied nur die Umdichtung, so gut kannte er sich in diesem Fach nicht aus. Und Ernst Busch konnte man nicht mehr fragen, der war ja nun auch schon tot, seit 1984… auf jeden Fall wurde es ein guter, ein romantischer Abend.




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Kultur mußte sein, das stand fest. Und das sagte auch eine etwa 75jährige Frau, die wie Helene Weigel aussah und gravitätisch langsam über die Bühne schritt und in einer halbstündigen programmatischen Ansprache die Ballettaufführung ankündigte. Sie sagte – Ricardo ließ sich das übersetzen, denn SIE sprach fließend Spanisch – der comandante en jeve habe beschlossen, dass „Kultur“ für Kuba unbedingt erforderlich und wichtig sei. Dank des comandante gebe es Kultur in Kuba, das sollte und wollte man dem comandante nie vergessen! Alle klatschten ergriffen, auch Ricardo, denn wenn das stimmte, und warum sollte es nicht stimmen, dann war das eine große Sache. Kein ´Dismissed´ auf MTV, keine Werbung, keine Heidi Klum sucht das blödste Model, keine casting bands – dafür Ballett. Klassisches Ballett! Der Schwanentanz von Tschaikowski oder wie das heißt. Alle Kostüme aus dem 19. Jahrhundert, das Bühnenbild von 1770. Anmutige Schritte, vollendete Grazien, zierliche Pirouetten, Schwenks, Ausfall- und Einfallschritte, hochgestemmte Mädelchen, stolz posierende Terreros, und noch nicht einmal schwul.


Umwerfend komisch .....

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Fast wäre sein Bild vom roten heterosexuellen Ballett zerstört worden, denn der illegale Kartenverkäufer wirkte nicht nur unbewußt oder latent schwul auf Ricardo, sondern war wahrscheinlich wirklich ein echter Homo! Er steckte in einer Damenstrumpfhose und praktizierte einen Hüftschwung wie eine Frau, als er vor ihm hertrippelte. Er führte Ricardo zu einem Hintereingang. Aber soweit kam er gar nicht. Schon an der Ecke wurde er vor den Augen Ricardos von zwei kubanischen Polizisten verhaftet. Der eine Polizist sah ihn haßerfüllt einige Sekunden an und holte dann silberne Handschellen heraus. Ricardo wurde somit erstmals im Leben Zeuge einer Verhaftung. Der der Homosexualität Verdächtigte ließ sich zwar bereitwillig die Handschellen anlegen, begann dann aber laut zu rufen. Es hörte sich an wie das Bellen eines Hundes und war bestimmt hundert Meter weit zu hören. Es war erschütternd. Er wollte wohl alle seine Freunde wissen lassen, dass sie ihn geschnappt hatten, dass er nicht zum Essen kommen würde diesen Abend und auch in Zukunft nicht mehr, dass er in den berüchtigten Gulags des Regimes verschwinden würde. Es klang wie eine verunglückte, weil zu laute Dankesrede bei der Oscar-Verleihung: „Und danken möchte ich noch meiner Mutter, die immer für mich da war, und grüßen will ich unbedingt noch meinen Agenten Pepe, der an mich geglaubt hat, als sonst niemand mehr auf mich gewettet hatte, und meinen Freund und Förderer Dr. Lucio Santos, der immer für mich…“

Ricardo ging schnell weiter. Er wollte nicht den unsympathischen Touristen spielen, der sich dauernd in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen. Vieles von diesen Dingen wußte der comandante en jefe auch gar nicht. Das hatten die dem gar nicht gesagt. Der wollte doch wirklich das Gute, und es war weiß Gott nicht alles schlecht, was er angepackt hatte, die sechsspurigen Fernstraßen zum Beispiel.


Der letzte Abschnitt ist Villacuba gewidmet ...

http://taz.de/blogs/lottmann/2007/06/17/...er-sozialismus/

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18.06.2007 22:39
#2 RE: Auf der Borderline nachts um halb eins.- Teil IV
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Rey/Reina del Foro

Zitat von Rafael_70
Für Manza und Dama: Vorsicht Ironie ...
na, ich kann Ironie schon ganz gut vertragen. Schick' das Zeug von Borderline per PM doch an Yaba

Toleranz als gesellschaftliche Tugend wird meist von denen gefährdet, die unter ihren Schutz fallen...

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18.06.2007 23:24
avatar  Jogni
#3 RE: Auf der Borderline nachts um halb eins.- Teil IV
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spitzen Mitglied

http://taz.de/blogs/lottmann/2007/06/14/10-kapitel-kuba/
Kapitel 10: Kuba ... endet so:
Ein alter IFA 85 Laster tuckerte heran. Ein Geschenk noch der DDR wohl. Ach, dachte ER, wenn das Wartburgclemens noch erlebt hätte, ein IFA 85, Originalzustand. Sicher saß Wartburgclemens jetzt in seiner Datsche und las populistische Literatur. Und was wohl der Mastermind gerade tat?
Da – ein japanisches Auto! Das erste! Irgendein Mitsubishi! ER spürte richtig, wie es ihm einen Stich ins Herz gab. Dieses herrliche Land mit dieser so ganz anderen Autokultur, und plötzlich der erste Japaner: furchtbar! Das war wie die erste diagnostizierte Krebszelle. Dann war es nicht mehr weit, bis das GANZE Land befallen war von diesen gräßlichen, krötengleichen Westautos; das kannte man schon von der DDR.

Und in Wikipedia steht das über Lottmann:
http://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Lottmann
Dies und Das
Lottmann lud seine Freunde zum Geburtstag, legte Getränke auf Eis, die Rede von Joseph Goebbels zum letzten „Führergeburtstag“ 1945 auf den Plattenspieler und verließ dann die offene Wohnung [4].
Lottmann feierte seinen Einstand beim Spiegel mit einem Leserbrief an die taz, in dem er darauf hinwies, dass ein Buch seines neuen Chefs Matthias Matussek nicht genügend gelobt worden sei [5]. Matussek bekam daraufhin in der taz die Gelegenheit, sich von der Beschreibung durch Lottmann zu distanzieren [6].
Als die Malerin Bettina Semmer nachträglich Geld für ein Bild verlangte, das sie Lottmann seinen eigenen Angaben zufolge geschenkt hatte, ließ dieser stattdessen für einen höheren als den von ihr geforderten Betrag „superoriginalgetreue Kopien“ herstellen und gab ihr das Bild zurück [7].


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19.06.2007 07:33
#4 RE: Auf der Borderline nachts um halb eins.- Teil IV
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Forums-Senator/in

In Antwort auf:
Ein alter IFA 85 Laster tuckerte heran. Ein Geschenk noch der DDR wohl. Ach, dachte ER, wenn das Wartburgclemens noch erlebt hätte, ein IFA 85, Originalzustand. Sicher saß Wartburgclemens jetzt in seiner Datsche und las populistische Literatur. Und was wohl der Mastermind gerade tat?
Da – ein japanisches Auto! Das erste! Irgendein Mitsubishi! ER spürte richtig, wie es ihm einen Stich ins Herz gab. Dieses herrliche Land mit dieser so ganz anderen Autokultur, und plötzlich der erste Japaner: furchtbar! Das war wie die erste diagnostizierte Krebszelle. Dann war es nicht mehr weit, bis das GANZE Land befallen war von diesen gräßlichen, krötengleichen Westautos; das kannte man schon von der DDR.


"Die einfachste Form der Ironie besteht darin, das Gegenteil von dem zu sagen, was man meint. Wer sich ironisch äußert, setzt voraus, dass sein Zuhörer klug genug ist, den Widerspruch zwischen Aussage und Sachverhalt zu erkennen. Wer damit nicht rechnet, wird das, was er sagt, durch besondere Betonung, Gesichtsausdruck oder Gesten begleiten, damit der Zuhörer erkennt, dass das Gesagte ironisch gemeint ist."

"Kinder können Ironie erst in reiferem Alter verstehen, nämlich erst nachdem sie gelernt haben, dass eine falsche Aussage nicht nur Irrtum oder Lüge, sondern auch Scherz sein kann."

"Für schriftliche Mitteilungen gilt besonders, dass Ironie nur verstanden wird, wenn der Empfänger kritisch mitdenkt und die Umstände (auch die Denkweise des Schreibenden) hinlänglich kennt."

"Sokrates entwickelt im Gespräch (sichtbar vor allem in den platonischen Dialogen) seine „Sokratische Ironie“, indem er sich als ein scheinbar Nichtwissender (und Wissender, dass er nichts weiß) von scheinbar Wissenden (und in Wirklichkeit Nichtwissenden) „belehren“ lässt, um sie dabei durch ironische Fragen in die Enge zu treiben und zu überführen. Die Ironie des Sokrates entsprang seiner eigenen Aporie (seinem Zweifel) und stand im Dienste der Wahrheit."




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