Man lässt sie nicht fliegen - Beobachtungen in Havanna

25.02.2007 05:03
#1 Man lässt sie nicht fliegen - Beobachtungen in Havanna
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Forums-Senator/in

http://www.freitag.de/2007/08/07081501.php


Man lässt sie nicht fliegen

DOPPELWELTEN - Eindrücke von und neben der Buchmesse in Havanna
Raul Zelik


Buchmessen sind eigenartige Veranstaltungen. Unter Aufwendung größter finanzieller Mittel stellen sie unter Beweis, dass kulturelle Produktion im Kapitalismus trotz allen Geredes von Bildung und Zivilisation in erster Linie durch ihre Warenform bestimmt ist. In flughafenähnlichen Hallen werden Bilder, Geschichten und Personen so massenhaft und umfassend vermarktet, dass der Text an sich bedeutungslos, fast sogar hinderlich erscheint.

[...]

Havanna ist gewöhnungsbedürftig; selbst wenn man nicht das erste Mal hier ist. Eine Millionenstadt im Zwielicht: keine angestrahlten Werbeflächen, keine glitzernden Fassaden, nur sparsam eingesetzte orangefarbene Straßenbeleuchtung. Außerhalb der Hauptstadt, erzählt mir ein auf der Insel lebender Freund, breitet sich wirkliche Nacht aus, völlige Dunkelheit. Mir erscheint schon die für kubanische Verhältnisse großzügige Beleuchtung Havannas als Zeichen des Verfalls.

Dabei sind auf den Straßen spürbar mehr Fahrzeuge unterwegs als in den neunziger Jahren. Seit die Regierung Chávez Kuba mit Erdöl versorgt, hat sich die Lage spürbar entspannt. Entspannt: Die Straßen sind wieder voll mit stinkendem Individualverkehr. Der hier lebende Freund, der die Theorie vertritt, der spezifisch kubanische Beitrag zur Entwicklung des Sozialismus bestehe in der Umsetzung des von Marx´ kubanisch-französischem Schwiegersohn Paul Lafargue postulierten Rechts auf Faulheit, behauptet, Kuba sei zunächst jahrzehntelang von der Sowjetunion ausgehalten worden und werde heute von Venezuela finanziert. "Dazwischen lag der Periódo Especial."

In der Altstadt stehen Jugendliche in großen Trauben vor verfallenen Fassaden und hören Songs der unsäglichen Shakira oder industriell gefertigten Reggae aus Puerto Rico. Entgegen allen Vorurteilen bekommt man in Havanna ziemlich oft schlechte Popmusik zu hören. Auch der Blick in die Hinterhöfe erweckt zunächst apokalyptische Assoziationen. Kein exotischer Charme des Ruinösen, wie das nächste gängige Klischee nahe legt, sondern graue, stickige Enge. Ich nehme Abwehrhaltung ein. Städtische Armut ist gewöhnlich mit Schmutz, Krankheit, Unsicherheit gleichbedeutend; die nächtliche Ansammlung von Jugendlichen in einer kaum beleuchteten Straße mit unmittelbarer Bedrohung.

[...]


Man tut sich als Ausländer auch deshalb in Havanna so schwer, weil hier die antrainierten Zeichensysteme versagen. Die Ruinen der Altstadt beherbergen überraschende Normalität. Während sich von der Straße aus der Zusammenbruch abzeichnet, hat man es sich in den Wohnungen im Inneren behaglich gemacht: das Bad gefliest, auf dem Dach ein Zimmer angebaut, neue Möbel gekauft. Woher die Materialien dafür kommen und vor allem woher die Leute das Geld dafür haben, kann oder will niemand so richtig erklären.

Der hier herrschende Zustand ist schwer zu beschreiben, vielleicht treffen es Begriffe wie "prekäre Grundsicherung" oder "formal-informaler Armutswohlstand". Zur Zeit werden in Kuba neue Fernseher, Kühlschränke und Waschmaschinen an die Haushalte verteilt. "Das hat uns Fidel geschenkt", erklärt mir eine junge Frau in dem Haus, in dem ich wohne. Mein Einwand, dass Konsumgüter verteilt werden, die sich die kubanische Bevölkerung kollektiv erarbeitet hat, und hier kein monarchistisches Geschenk vorliegt, wird nicht verstanden. Zu den verrückten Seiten in diesem Land gehört beispielsweise, dass offensichtliche Fragen zwar gestellt, aber nicht diskutiert werden können.

[...]

Die Behauptung, dass in Havanna nicht alles Ware ist, muss wie alles, was man über die Insel sagt, Positives wie Negatives, sofort relativiert werden. Eine seltsame Doppelökonomie prägt das Land. Selbst auf der Buchmesse, immerhin die staatlich organisierte Unterhaltungsveranstaltung, ist das zu bemerken. Auch einheimische Buchproduktionen, für die es an Papier und verlässlichen Druckereien mangelt (das renommierte Verlagshaus Casa de las Américas lässt deshalb mittlerweile in Kolumbien drucken), sind an vielen Ständen nicht in kubanischen Pesos zu erwerben. Die konvertible Touristenwährung CUC ist unverzichtbares Zahlungsmittel. Wer ein illustriertes Kinderbuch - eindeutig der Renner dieser Buchmesse -, oder eine Dose kubanische Limonade kaufen will, wer mit dem Taxi fahren muss, weil die Busse überfüllt vorbeirauschen oder sich auf dem sozialen Ereignis Buchmesse mit neuen Schuhen sehen lassen will, muss an CUC kommen.

Ohne diesen Zugang zur kapitalistischen Rest-Welt kann man im staatlich importierten chinesischen Reiskocher Kohlehydrate weich kochen, auf den einheimischen Agrarmärkten Gemüse kaufen, fernsehen, die illegale Kopie eines US-Films im Kino sehen, eine Schule besuchen, sich im Krankenhaus die ernsten Erkrankungen behandeln lassen... Alles Weitere findet im monetären Paralleluniversum statt. Eine absurde, manchmal auch grausame Doppelwelt: Der durchschnittliche Lohn liegt bei umgerechnet acht Euro, das bedeutet: ein Bier - vier Tage durchschnittlicher einheimischer Arbeitslohn, eine Taxifahrt - zwei Wochen einheimischer Arbeitslohn, ein Paar Schuhe - ein halbes Jahr einheimischer Arbeitslohn. Selbst für die einfache Gesundheitsversorgung muss auf Kuba - informell - häufig gezahlt werden. Auch die Zahnärztin ist vom Zugang zur Welt des CUC abhängig und verschafft ihn sich durch informelle Zuzahlungen.

Die Behauptung von freundlich gesonnenen Kuba-Reisenden, es gebe doch wieder alles im Land, ist vor diesem Hintergrund einigermaßen zynisch. Wer in Havanna ausschließlich über Moneda Nacional verfügt, verhungert zwar nicht, am sozialen Leben teilnehmen allerdings kann er oder sie auch nicht wirklich.


Das Schattensystem, das die formale Ökonomie mit dem monetären Paralleluniversum verbindet, ist unüberschaubar. Ich trinke mit einer kolumbianischen Bekannten, einer Exilierten, die weiß, was sie dem kubanischen Staat zu verdanken hat, zwei Dosen Limonade - 15 Prozent eines monatlichen Durchschnittseinkommens. Die Freundin erzählt, dass die Bedienung in diesem Imbiss nicht vom Lohn, sondern von dem Käse lebt, den sie hier klaut, um ihn schwarz zu verkaufen. (Chaval, aufpassen )

Die Freundin erzählt weiter, dass der Staat diesem kollektiven Diebstahl einerseits machtlos gegenübersteht, ihn andererseits erzwingt und maßgeblich prägt. Wer keine Verwandten im Devisenausland hat, muss mitstehlen, um über die Runden zu kommen, und leitende Funktionäre üben häufig auch bei der systematischen Schattenprivatisierung gesellschaftlichen Eigentums leitende Funktionen aus. Die Freundin berichtet, dass die Staatsführung allerdings auch immer wieder die Handbremse zieht. Im vergangenen Jahr seien alle Tankstellenwärter im Land wegen Korruption gefeuert worden. "Das waren die reichsten Leute im Land", behauptet die Freundin. "Die haben den Benzinverbrauch der offiziellen Fahrzeuge zu hoch angesetzt und den beiseite geschafften Kraftstoff schwarz verscheuert." Danach seien Studenten als Tankstellenwärter angestellt worden.

Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt. Auch Öffentlichkeit findet auf der Insel in einem eigenartigen Schattensystem statt, präsentiert sich dabei allerdings - wie gesagt: sowohl Lob als auch Kritik der Verhältnisse bedürfen der Einschränkung - in vieler Hinsicht als weniger manipuliert als die von Konzernen und bürgerlichen Repräsentationsformen dominierte Öffentlichkeit Westeuropas. Trotz offizieller Verlautbarungsprosa ist der Blick der Betroffenen auf die Realität dann doch oft sehr hellsichtig: "Die Planung in diesem Land ist weniger von Karl Marx inspiriert als von dessen Namensvettern Groucho, Chico und Harpo ..."



Das Zeichensystem Havannas folgt Prinzipien, die denen, an die wir uns in Europa gewöhnt haben, genau entgegengesetzt sind. Wird man im Kapitalismus gezwungen, einer Flut von Zeichen - Handlungsanweisungen, Lebensstilbotschaften, Lustversprechen - zu entkommen, so sucht man hier verzweifelt nach Orientierungspunkten.

Außerhalb der Dollarökonomie gibt es keine Werbehinweise, und so irre ich zwei Abende lang hungrig durch die Altstadt und finde, abgesehen von CUC-Restaurants, CUC-Supermärkten, CUC-Hotels, in die ich nicht will, weil sie ein falsches Bild von der Stadt vermitteln, nichts zu essen. Erst am dritten Abend stelle ich überrascht fest, dass in meiner Straße in drei Hauseingängen Mahlzeiten verkauft werden. Die Imbisse scheinen nach dem Prinzip organisiert, dass was gebraucht wird, auch gefunden wird. Ein Organisationssystem von Zeichen, das auch in anderen Bereichen gilt: Die Bushaltestellen in Havanna sind zwar gekennzeichnet, aber Routen und Liniennummern müssen eigentlich immer wieder neu erfragt werden. Baumaterialien sind in Geschäften nicht erhältlich, werden aber dann doch von Privatleuten überall verbaut. Es gibt keine echte Ausgehmeile, in den Kneipen der Kubaner sind Getränke in der Regel nur recht zögerlich und für die Einheimischen teuer zu erstehen, und trotzdem ist der kaum beleuchtete Malecón nachts voll mit Jugendlichen, Liebespaaren, Schwulen, Transvestiten, die hier, von der Polizei zurückhaltend misstrauisch beäugt, scheinbar ohne Getränke und Musikanlage ausgelassen feiern.

Es gibt so vieles, das ich nicht verstehe.


Prekäre Starre: Im Zwielicht von Havanna sind alle abgesichert und müssen sich doch alle ständig alles organisieren. Das Leben ist weniger von Idiotien beherrscht als die Laufradexistenz des kapitalistischen Kampfsubjekts und doch frustrierend. "Man gibt den Leuten hier Flügel", formuliert die kolumbianische Freundin, "aber lässt sie nicht fliegen." Die meisten von denen, die studiert haben, wollen weg aus dem Land - was ihnen im übrigen nicht von der kubanischen Regierung versagt wird, sondern von den visumspflichtigen Wohlstandsstaaten im Norden.

[...]

Zu den unerträglichen Idiotien Kubas gehört es, dass das staatliche Fernsehen den ganzen Tag über Produkte aus der industriellen Filmmaschine Hollywoods laufen lässt, der Staat, Leuten wie diesem Aktivisten, die letztlich das machen, was proletarische Literatur einmal sein sollte, aber zu sehr misstraut, um ihre Autonomie zu akzeptieren.

Wobei auch hier eine Relativierung nötig ist: Die US-Filme laufen nur deshalb im staatlichen Fernsehen, weil die Behörden in einem Akt kommunistischer Produktpiraterie, Master-DVDs auf dem kapitalistischen Ausland entführen und fernab kapitalistischer Wertrealisierung einfach vergesellschaften.





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25.02.2007 11:16
avatar  jemen
#2 RE: Man lässt sie nicht fliegen - Beobachtungen in Havanna
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super Mitglied

In Antwort auf:
Das Leben ist weniger von Idiotien beherrscht als die Laufradexistenz des kapitalistischen Kampfsubjekts und doch frustrierend. "Man gibt den Leuten hier Flügel", formuliert die kolumbianische Freundin, "aber lässt sie nicht fliegen." Die meisten von denen, die studiert haben, wollen weg aus dem Land - was ihnen im übrigen nicht von der kubanischen Regierung versagt wird, sondern von den visumspflichtigen Wohlstandsstaaten im Norden.


das klingt sehr einleuchtend, aber doch auch wieder etwas romantisch verklärt. - Ist unsere Gesellschaft wirklich die idiotischere? Und ist der wohlhabende Norden schuld daran, dass der kubanische Vogel nicht fliegen darf? Meine spontane Antwort wäre "ja, stimmt". Aber ist das nicht der Wunschtraum von einer besseren Welt, weit weg von den Problemen des Alltags hier? Leider gibt es im Forum glaube ich keinen, der objektiv urteilen kann. Ob Tourist in Varadero oder selbst ernannter Comandante - alle bleiben auf ihre Weise im hiesigen Koordinatensystem verfangen.


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25.02.2007 11:52
#3 RE: Man lässt sie nicht fliegen - Beobachtungen in Havanna
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Rey/Reina del Foro

In Antwort auf:
Leider gibt es im Forum glaube ich keinen, der objektiv urteilen kann. Ob Tourist in Varadero oder selbst ernannter Comandante - alle bleiben auf ihre Weise im hiesigen Koordinatensystem verfangen.

Sicherlich wahr.
Aber, so tendentiell der Bericht auch geschrieben ist, aus meiner Sicht es gibt daran nicht viel auszusetzen.


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