Kubanische Literatur: Lesen heißt Wachsen

01.11.2004 11:10
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#1 Kubanische Literatur: Lesen heißt Wachsen
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Rey/Reina del Foro

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Kubanische Literatur: Lesen heißt Wachsen

Kein Land Lateinamerikas verfügt über so viele Künstler pro Quadratkilometer wie Kuba‚ behaupten die Inselbewohner stolz. In der Tat überrascht die Fülle des Angebots in Literatur, Musik und Kunst, gibt es herausragendes Ballett und vorzügliche Filme, obwohl die bescheidenen Finanzen der Kreativität hier Zügel anlegen.
.....
Kuba beeindruckt seit der Unabhängigkeit 1898 durch eine Vielzahl literarischer Meisterwerke. José Martí, Essayist und Lyriker, war ihr intellektueller Urheber, ist zugleich auch der omnipräsente Vater der Revolution. Romanciers wie Alejo Carpentier, José Lezama Lima oder Guillermo Cabrera Infante wurden weltberühmt, und die Kritik verglich sie mit Thomas Mann, Marcel Proust oder James Joyce. Die Liste bedeutender Autoren ließe sich beliebig verlängern.

Nach 1959 startete die Revolution sogleich eine gewaltige Alphabetisierungskampagne, und "Kultur" wird seitdem großgeschrieben. Die Liebe zum Buch pflegt man bereits im Kindergarten. "Lesen heißt wachsen", wie der Leitspruch der diesjährigen Buchmesse von Havanna lautete. Hunderttausende Kubaner kommen jeweils zu dieser Veranstaltung, um ein paar Bücher kaufen zu können – die heißbegehrte Mangelware.

Alle sind sich einig: es gibt zu wenig Bücher auf Kuba, nie wird das Lesebedürfnis aller befriedigt. Einem Ansturm von Manuskripten stehen der Mangel an Papier und die veralteten Druckmaschinen gegenüber. Lange Wartezeiten für die Autoren sind unvermeidlich, und die Produktion unbequemer Texte kann so leicht "verschoben” werden. Wie sehr die Kubaner jedoch das Lesen lieben, zeigt ein Gang über die Buchmesse: stundenlang stehen sie in der prallen Sonne Schlange, um einen Roman oder ein Kinderbuch (ganz wichtig) für ein paar Pesos erwerben zu können. Davon kann man in Deutschland nur träumen.

Und wie leben die Schriftsteller? Was sind ihre Themen? Vereinfachend möchte ich behaupten: sie geben Auskunft, erzählen von den Sehnsüchten, die sie umtreiben, von den Ängsten, die sie beschäftigen. Auf die neue Not und die Auflösung alter Ideale nach dem Zusammenbruch der UdSSR reagieren insbesondere die jungen Autoren, die "Kinder der Revolution", obwohl sie die Bezeichnung ablehnen. Sie beschreiben die veränderten Wirklichkeiten mit beeindruckender Offenheit, kritischem Blick und großem künstlerischen Talent.



http://www.adac-verlag-gmbh.de/magazine/...s/literatur.php

Moskito


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01.11.2004 11:12
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#2 RE:Kubanische Literatur: Lesen heißt Wachsen
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Rey/Reina del Foro

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Keiner kennt den Fliegenfänger

Ein Text von David Mitrani

Ricky Martin höchstpersönlich ist nach Juanelo gekommen, jawohl. Vor ein paar Tagen tanzte er noch mit dem amerikanischen Präsidenten, der Präsident machte dabei zwar einen ziemlich tölpelhaften Eindruck, führte aber gut und verschuf sich den gebührenden Respekt, schließlich war er ja auch eine Persönlichkeit, auch er musste, verdammt noch mal, sein Image pflegen. Aber alles in allem gab der Präsident eine ziemlich blasse Figur ab. Ricky hingegen, aber wem sage ich das, war das Charisma selbst, große Klasse. Und trotzdem ist er in dieses Vorstadtviertel von Havanna gekommen, ohne Umstände ist er aus einem alten Chevrolet gestiegen, ohne Umstände, mit seiner verwaschenen Jeans und seiner Basballkappe, bescheiden, meine Herren. Und da sind die Jugendlichen und spielen seine Musik in voller Lautstärke, damit Ricky weiß, wer seine wirklichen Fans sind, denen selbst die knalligste Sonne egal ist, damit er sieht, wer ihn liebt, wer ihn bewundert. Und spielen jetzt noch einmal seine letzten Lieder, um ihm zu zeigen, dass die Kubaner nicht von gestern sind, dass sogar die Spatzen pfeifen: Tú y yo, Alé, Alé, Alé.

Dort steht Ricardo Martínez. Von Zeit zu Zeit holt er mit der Hand aus und fängt ein paar Fliegen, die er danach wieder loslässt. Er hat Talent dafür, aber auch nur dafür. Um ehrlich zu sein, kümmern ihn weder Ricky, noch Alé, Alé, Alé, noch irgendetwas, das mit diesem Volk zu tun hat, außer natürlich Ilka. Sie rührt sich nicht aus ihrer Position neben ihm und ihr Blick fixiert die Wände, hinter denen sich der berühmte Sänger befindet. Sie ist angemessen gekleidet. Sie hat ein Stretchoberteil an, eine Art besseren Büstenhalter, der von den Designern Top getauft wurde, mit einem Foto von Ricky darauf. Sein gedrucktes Gesicht wird von den sich darunter abzeichnenden Brüsten so aufgebläht, dass es stellenweise an das von Luciano Pavarotti erinnert.

Im Augenblick ist Ricardo Martínez dankbar. Auch wenn sein Namensvetter ihn nicht die Bohne interessiert, muss er zugeben, dass dank ihm und seiner großartigen Idee, auf die Perle der Karibik zu kommen, Ilka jedesmal, wenn die Tür des Hauses aufgeht, aufgeregt von der Mauer gleitet und seine Hand drückt (die von Ricardo), und er hinter ihr steht und in der allgemeinen Verwirrung ihre schmale Taille streichelt, und einfach nur glücklich ist.

Ein Mädchenchor kreischt: Ricky! Die Tür geht auf und es erscheint Norge, der das Wunder vollbracht hat, den Puerto Ricaner herzubringen, und der, zum Stolz der Nation und Juanelos, einer seiner talentierten Musiker ist. Dem Himmel sei dank sind der Puerto Ricaner und er Freunde und haben beschlossen, gemeinsam das Viertel zu besuchen, in dem der Kubaner mit Steinen warf und Eidechsen fing. Norge will die Bewohner des Viertels überzeugen, dass Ricky abgereist ist, aber das nimmt ihm keiner ab, und Norge bleibt nichts anderes übrig, als sich wieder in sein Versteck zurückzuziehen. Nach einer Weile scheint es tatsächlich, jawohl, als würde Ricky sich seiner Fans erbarmen. Die Tür wird aufgesperrt. Die Herzen klopfen schneller. Aber dann kommt stattdessen eine verschreckte Frau heraus, in üppigen Rüschen gehüllt. Sie geht auf den Chevrolet zu und irgendjemand murmelt: "Das ist Ricky als Tussi verkleidet." Und schon versuchen alle verzweifelt, ihn zu umarmen. Sie reißen dem vorgeblichen Travesti an den Haaren, doch schon schließt sich die Autotür und kreischend flüchtet die Gestalt. Ricardo nimmt Ilkas Hand und zieht sie von der Menge weg.

"Komm, ich habe eine Idee."
Sie steigen aufs Fahrrad. Ilka sitzt hinter ihm und umfasst die Bauchmuskeln ihres eifrigen Treters. Der Morgen dämmert schon. Erst glaubt sie, dass Ricardo versuchen würde, den Oldtimer einzuholen, aber dann sieht sie ein, dass das nicht zu schaffen ist. Er hat einen anderen Plan. Jemand hat einen Mitsubishi gesehen, der außerhalb des Viertels geparkt ist, und hat den Fliegenfänger davon informiert. Bergauf radelt es sich mühsamer, aber Ilka ist ja so eine leichte Last. Ricardo lehnt sich nach vorne. Der Tag würde kommen, an dem der Fliegenfänger die Wahl unter den schönsten Mädchen hätte. Jetzt heißt es noch warten. Anfänger flößen Misstrauen ein. Jeder Erfolg hat eine graue Vorzeit, wie eine lächerliche Schmetterlingsraupe, die sich am Widerwillen der andere vorbeischleppen musste. Alles beginnt wie bei dem hässlichen Entlein in seinem Teich. Ricardo spürt, wie das Mädchen sich gegen ihn drückt. Die anderen sind zurückgeblieben und beklagen die Flucht ihres Idols in Frauenkleidern. Klar, sie haben eben nicht den Instinkt eines Fliegenfängers. Die Steigung ist schon vorbei. Ricardo spürt, wie sein Schweiß zu fließen aufhört, während das Mädchen den Kopf auf seinen Rücken legt und ihm das nasse Hemd gegen die Haut drückt.

Die Leute von Juanelo langweilen sich, diskutieren, ob die Frau ein Mann war oder nicht, dass sie sehr klein schien, zu viele Falten hatte und zu dick war, dass ihr jemand an den Busen gefasst hätte und der sei echt gewesen, dass sie jemand an den Haaren gezogen hätte und die seien fest gewesen, eindeutig ihre eigenen. Ricardo lässt es bergab laufen. Der Wind im Gesicht ist erfrischend. Wenige Blöcke von der heiligen Jungfrau des Weges entfernt sieht er den Mitsubishi von Rent a Car. Drinnen sitzt ein Mann und schläft selig. Die beiden Jugendlichen verstecken sich in einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite und beobachten das Auto.

Ricky, immer noch unter Belagerung, biegt sich vor Lachen. Er schlüpft in einen riesigen Koffer, der voller Kleider aus Miami kam. Was für ein Spaß, diese Insel ist wirklich genial, und die Menschen, so einfach und dabei so witzig. Noch als sie den Reißverschluss zuziehen hört man sein Lachen, und Norge, der kubanische Witzbold, kitzelt ihn von außen, und setzt sich auf den Koffer, und sie können nicht mehr vor Lachen, und der Koffer sieht aus wie ein sich windender Wurm, der durchs Wohnzimmer kriecht, und die ganze Familie amüsiert sich, bis Norge und ein anderer Mann Ricky auf die Schultern nehmen und ihn unter den aufmerksamen Blicken der Mädchen nach draußen bringen. Sie legen den Koffer auf den Rücksitz des Autos, das zuvor die Frau mitgenommen hatte, Norge setzt sich ans Steuer, gibt Gas und fährt mit einer schwarzen Auspuffwolke weg.

Sonst ahnt niemand etwas von der Flucht. Die Fans hoffen noch eine weitere Stunde, bis sie schließlich abmarschieren. Nicht so lange muss Ricardo warten, der jetzt den alten Chevrolet heranfahren sieht. Norge steigt aus, überquert die Straße, weckt den Mann in dem Mitsubishi. Sie holen den Koffer heraus und, YEAH!, es erscheint Ricky. Sie lachen. Fantastisch. Der andere Mann verabschiedet sich, lächelt, sie schütteln sich die Hände. Der Oldtimer fährt weg. Norge am Steuer des Leihwagens. Ilka rennt über die Straße zu ihnen und schreit: "Ricky!" Gleich darauf ist sie am Autofenster, mit bebender Stimme: "Ich bin Ilka, ich kann alle deine Lieder auswendig. Nimm mich mit mein Liebster, bitte."

Der Sänger lächelt. Ilka, das Gesicht unmittelbar vor dem des Puerto Ricaners, kann der Versuchung nicht widerstehen und küsst ihn stürmisch. Sie spürt Rickys Atem, wie er zur überraschenden Antwort ansetzt. Da steht Ricardo Martínez auf und geht auf das Auto zu. Norge beobachtet ihn im Rückspiegel.
"Das ist eine Falle, sie sind zu mehreren", schreit er und tritt aufs Gaspedal. Die Reifen quietschen auf dem Asphalt. Der Wagen schleift das Mädchen einige Meter mit, bevor sie auf die Straße geschleudert wird. Ricardo rennt verzweifelt hinterher, flucht und schreit, schmeißt einen nutzlosen Stein, kniet neben Ilka, hält ihren Kopf. Sie stammelt: "Ich habe ihn geküsst. So habe ich seinen Kopf gehalten und dann habe ich so gemacht und er … er …" Ilka steht auf, lächelt. Ricardo umarmt sie. Ihr ist schwindlig. Ihr brennen die Knie, die Ellenbogen, aber sie nimmt ihren ganzen Willen zusammen und stößt den Fliegenfänger von sich.

"Lass mich los, fass mich nicht an." Ilka geht weg. Ricardo bleibt stehen. Am liebsten würde er rufen, dass sie zurückkommen soll, aber er tut es nicht, am liebsten würde er ihr nachlaufen, aber ihm fehlen die Kräfte. Ilka geht glücklich fort, mit dem schönsten Andenken ihres Lebens auf den Lippen. Besser, sie einfach zu vergessen. Besser, Schuster oder Pizzabäcker werden. Besser, sich einzugestehen, dass der Versuch, den Fliegenfängern zur Noblesse zu verhelfen, lächerlich ist. Sein Talent würde nie erkannt werden.

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Moskito


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