Buch von Heinz Dietrich: Kuba nach Fidel

06.06.2006 14:13 (zuletzt bearbeitet: 06.06.2006 14:18)
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#1 Buch von Heinz Dietrich: Kuba nach Fidel
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Kann die Revolution überleben?
"Kuba nach Fidel"
Von Heinz Dieterich

"Kuba - nach Fidel" heißt ein Buch, in dem zwei Reden veröffentlicht sind. Die erste hielt Fidel Castro, der im August 80 Jahre alt wird, im November 2005 an der Universität von Havanna. Sie enthält den Satz: "Dieses Land kann sich selbst zerstören." Die zweite hielt Außenminister Felipe Perez Roque (41) einen Monat später vor dem kubanischen Parlament und nahm darin die Warnung Fidels vor dem möglichen Untergang der Revolution auf. Professor Heinz Dietrich, Soziologe und meistveröffentlichter zeitgenössischer Autor in Kuba, hat sich in der Einleitung zum Buch und in weiteren Beiträgen mit der Frage "Kann die Revolution überleben?" auseinandergesetzt. Die Redaktion.

Carl von Clausewitz, wahrscheinlich der bedeutendste Militärtheoretiker aller Zeiten, hat die höchstmögliche Effizienz der Kriegsführung in einem einfachen Satz zusammengefasst: die Konzentration der richtigen Anzahl der Truppen, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Fidel Castro, der nicht nur ein außerordentliches militärisches Talent ist, sondern auch ein Genie der politischen Kriegführung, praktiziert diese Maxime seit einem halben Jahrhundert in der erfolgreichen Verteidigung der kubanischen Revolution gegenüber der nichtendenwollenden Aggression der Vereinigten Staaten.

Fidel ist die Inkarnation der Clausewitzschen Militärdialektik auf den Schlachtfeldern der Politik; George Bush ist die Version Bonsai dieser Dialektik. Daher kann Bush seine kriegerische Kampagne gegen Kuba nicht gewinnen, solange Fidel lebt. Der Triumph der faschistoiden Kriegstreiber in Washington ist daher geplant für das physische Ableben des kubanischen Präsidenten. Die subversiven und aggressiven Vorbereitungen für diesen Moment, die im wesentlichen bedingungslos unterstützt werden vom Europäischen Unionsimperialismus, einschließlich einiger Schafe und Heuchler der Europaparlamentsfraktion der Linkspartei, sind allerdings bereits in vollem Gange.

Das ist der Hintergrund der transzendentalen Rede, die Fidel Castro am 17. November des vergangenen Jahres an der Universität von Havanna hielt und in der er zum ersten Mal die Möglichkeit zur Debatte stellte, dass die kubanische Revolution reversibel sein könne, so wie die sozialistischen Prozesse in der DDR und der Sowjetunion vor ihm. Zwei Fragen stellte der Comandante an die anwesenden Studenten, Professoren und Mitglieder der Partei:
1) "Glaubt Ihr, dass der revolutionäre, sozialistische Prozess Kubas umkehrbar ist?"
2) "Welche Ideen oder welcher Grad des Bewusstseins wäre in der Lage, die Umkehr eines revolutionären Prozesses unmöglich zu machen?"

Die sich verschärfende US-EU-Aggression ist zugleich das Motiv für die Veröffentlichung dieses Buches, welches den Aufruf Fidels zur öffentlichen Debatte über die Zukunft der kubanischen Revolution nach dem Ausscheiden der Gründergeneration aufnimmt, um solidarisch mitzuhelfen, dass Baby-Bush und seine europäischen Gesinnungsgenossen ihr reaktionäres Ziel der neokolonialen Annexion Kubas nicht erreichen - nicht jetzt und auch nicht nach dem Tode Fidels.

Es gibt kein "höheres und einfacheres Gesetz für die Strategie als das: seine Kräfte zusammenhalten. - Nichts soll von der Hauptmasse getrennt sein, was nicht durch einen dringenden Zweck davon abgerufen wird. An diesem Kriterium halten wir fest und sehen es als einen zuverlässigen Führer an", schreibt von Clausewitz in seinem klassischen Werk Vom Kriege. (rororo, 2003, S.94)

Getreu dieser Logik hat Fidel immer eine Politik betrieben, die die Öffnung verschiedener Konfliktzonen und -fronten verhinderte. Die Konzentration aller Kräfte auf ein Problem und die Auswahl des richtigen Zeitpunkts, um sich diesem Problem zu stellen, sind zwei der markantesten Eigenschaften der politischen Praxis, die Fidel seit dem Beginn seiner studentischen Aktivitäten an der Universität von La Habana priorisiert hat. Und es sind diese Charakteristika, die der Universitätsrede vom 17. November ihre außerordentliche Bedeutung geben. Nach fast fünfzig Jahren kubanischer Sozialismus-Entwicklung hatte sich für Fidel im Laufe des Jahres 2005 der "dringende Zweck" eingestellt, Kräfte von der "Hauptmasse" revolutionärer Macht und ihrer Hauptfront - der Verteidigung gegen die Aggression der transatlantischen Bourgeoisie (USA und EU) - abzutrennen, um sie der Gefahr einer internen Rückentwicklung zum Kapitalismus entgegen zu werfen.

Die internationale Solidaritätsbewegung reagierte mit Bestürzung und Unglauben auf den Vorgang angesichts der Tatsache, dass der Comandante, der ein halbes Jahrhundert lang stets versichert hatte, dass die Revolution unbesiegbar, der Sozialismus unsterblich und die Partei ewig sei, nun plötzlich öffentlich das Gegenteil behauptete. Es handelte sich um ein seismisches Beben revolutionärer Erkenntnistheorie und -politik. Der Kommandant der Wahrhaftigkeit, der Garant des endgültigen Sieges, holte unverhohlen, ohne Vorwarnung und ohne Umschweife, die Dialektik in den offiziellen Diskurs der kubanischen Revolution zurück. Die Revolution stand unvermittelt vor dem Abgrund und manifestierte ihre feste Entschlossenheit, dem Abgrund zu entgehen; beides Erfahrungen, die sich in Fidels Leben häufig wiederholt haben.

Nicht so jedoch in der weltweiten Solidaritätsbewegung. Diese reagierte nicht auf die Aufforderung des Comandante, Ideen beizutragen, die den Kollaps des Prozesses verhindern könnten. Sie schweigt, und in einigen Fällen lässt sie die Rede Fidels sogar aus der öffentlichen Debatte verschwinden. Es ist eine genuin menschliche Reaktion, denn die Idee des Ablebens Fidels führt unweigerlich zur Trauer in den Herzen all jener, die es vorziehen, sich mit Spartakus und Che Guevara zu irren, als mit Rom und Bush Recht zu haben. Objektiv gesehen handelt es sich jedoch um einen Akt, den man mit Herbert Marcuse als "repressive Toleranz" bezeichnen würde. Eine falsche Toleranz, die jener Sache der Menschheit schadet, die der Comandante voranbringen will.

Fünf Wochen nach der Rede Fidels, am 23. Dezember 2005, lenkt der talentierte Außenminister und ehemalige Privatsekretär Fidels, Felipe Pérez Roque, die Aufmerksamkeit erneut auf die Rede des Präsidenten. In der Nationalversammlung (ANPP) besteht er darauf, dem Aufruf Fidels an der Universität volle Aufmerksamkeit zu widmen, diesem Satz, der "niemals zuvor in Zeiten der Revolution öffentlich ausgesprochen wurde: dass die Revolution umkehrbar sein kann ... aufgrund unserer eigenen Fehler".

Felipe Pérez Roque schlägt drei strategische politische Maßnahmen vor, Prämissen nennt er sie, um die Revolution zu retten, wenn eines Tages der Tod Fidels ein Vakuum hinterlässt, das "niemand füllen kann und das wir alle, als Volk, ausfüllen müssen", und er fordert die zukünftigen Regierenden dazu auf, "schon jetzt dafür zu kämpfen", eine mögliche Rückkehr zum Kapitalismus zu verhindern.

Diese Maßnahmen beinhalten folgendes:
1. Die moralische Autorität der Revolutionsführer in Staat, Partei und Gesellschaft muss aufrechterhalten werden, indem diese mit gutem Beispiel vorangehen und ohne Privilegien regieren.
2. Die Unterstützung durch die Mehrheit des Volkes muss garantiert werden, "nicht auf der Basis des materiellen Konsums, sondern auf der Grundlage von Ideen und Überzeugungen".
3. Es muss verhindert werden, dass eine neue Bourgeoisie entsteht, "denn diese stünde, wenn wir sie zulassen würden, erneut auf Seiten der USA und der transnationalen Konzerne ... Wir dürfen uns keinen Naivitäten hingeben …; der entscheidende Punkt ist, wer den gesellschaftlichen Reichtum erhält - die Mehrheiten und das Volk, oder die oligarchische transnationale Minderheit, die für die Yankees ist …; die Frage ist, wem das Eigentum gehört, dem Volk, den Mehrheiten oder einer korrupten Minderheit, die dem US-Imperialismus ergeben ist".

Keine dieser Maßnahmen, so argumentiere ich in meiner Diskussion der Vorschläge des Außenministers und einiger Ausführungen Fidels, wird die Zukunft der Revolution nach dem Tode Fidels garantieren. Ebensowenig wie einige ökonomische Verbesserungen in der Lebensqualität der kubanischen Mehrheiten. Denn die Krise des Modells des historischen Sozialismus in Kuba ist strukturell, so wie sie es auch in der DDR und der Sowjetunion war. Sein ökonomisches System und der politische Überbau werden nicht in der Lage sein, den Bedingungen und Erwartungen der Bevölkerung des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.
Die Krise ist strategischer Natur und kann daher mit taktischen Maßnahmen nicht dauerhaft gelöst werden; sie erfordert ein neues historisches Projekt, das nur im Sozialismus des 21. Jahrhunderts zur Verfügung steht. Das ist das zentrale Thema dieses Buches, welches den Aufruf Fidels aufnimmt, eine Debatte zu führen, die unter dem Gesichtspunkt meiner politischen Ethik lediglich eine Zielsetzung haben kann: die Theorie und Praxis des Übergangs zu einer nichtkapitalistischen Welt voranzutreiben, in der die Zukunft Kubas von entscheidender Bedeutung ist.

Soweit die Einleitung. Es folgt das letzte Kapitel der Ausführungen von Heinz Dieterich mit der Überschrift

Die Alternative: Kapitalismus oder Sozialismus des 21. Jahrhunderts

Die oben näher beschriebene sozialistische Ideologie hatte gegen 1970, außer in der Sowjetunion, ihre Fähigkeit verloren, das Historische Projekt von 1917 als zukunftsweisendes darzustellen. Diese ideologische Krise des strategischen Modells für den Kampf gegen den Kapitalismus und den Aufbau der neuen Gesellschaft, die weltweit in allen sozialistischen Staaten auftrat, hing eng zusammen mit der Strukturkrise des Wirtschaftsmodells der Nachkriegszeit, welches als ein System extensiver Kapitalakkumulation angesehen werden kann. Angesichts der Koinzidenz von struktureller Wirtschafts- und Ideologiekrise hatten die führenden Schichten dieser Staaten drei Optionen, um das existierende System zu stabilisieren:
a) einen kontrollierten Übergang zur Marktwirtschaft;
b) die Konstruktion des Sozialismus des 21. Jahrhunderts oder
c) Elemente beider Systeme in einer "sozialistischen Marktwirtschaft" zu kombinieren.

Mit Ausnahme Chinas optierte keine der sozialistischen Staatsparteien für den Entwicklungsweg des Sozialismus des 21. Jahrhunderts, da drei wesentliche Hindernisse dieser vorwärtsweisenden Strategie im Wege standen:

1. das Fehlen einer wissenschaftlichen revolutionären Theorie des Übergangs zum neuen Sozialismus;
2. eine durch Pragmatismus und Bürokratismus atrophierte Einheitspartei und
3. ein der Gesellschaft entfremdeter Staat.

Angesichts dieser komplizierten Situation lösten sich Regierungsmaßnahmen in Richtung auf die kapitalistische Marktökonomie mit Rückzügen auf die sozialistische Orthodoxie ab, bis die objektiven Bedingungen, die Subversionspolitik des Imperialismus und/oder die Bevölkerungen dieser Schwankungspolitik mit Gewalt ein Ende setzten. Lediglich die chinesische Führung konnte sich stabilisieren, indem sie bewusst, unter Deng Xiaoping, den Weg autokratischer kapitalistischer Modernisierung beschritt, den vor ihr Deutschland, die USA, Japan und die asiatischen Tiger erfolgreich beschritten hatten.

Die Lektionen für Kuba sind klar. Das alte sozialistische Paradigma kann die kubanische Revolution nicht mehr substantiieren (stützen), da es nicht auf einer weiterhin gültigen historischen Wahrheit basiert, sondern auf einer Ideologie der Vergangenheit. In diesem Szenarium ist es nicht möglich, den revolutionären Prozess mittels einiger ökonomischer Verbesserungen dauerhaft zu konsolidieren, denn das Ausmaß der Krise ist strategisch. Es handelt sich um den Verlust eines Historischen Projektes. Taktische Maßnahmen werden nicht ausreichend sein, um das System zu stabilisieren.

Falls die Revolution nicht versteht oder negiert, dass die Krise paradigmatischer Natur ist und nicht den Schritt zur Konstruktion des Sozialismus des 21. Jahrhunderts geht, zusammen mit der unmittelbaren Durchführung politisch-ökonomischer Maßnahmen, die der Bevölkerung glaubwürdig vor Augen führen, dass eine demokratischere und materiell weiterentwickeltere Gesellschaft ihre Zukunft ist, dann wird es wahrscheinlich unmöglich sein, die kubanische Revolution zu retten. Sie würde dann den Weg der DDR und der Sowjetunion gehen.

"Kuba nach Fidel -
Kann die Revolution überleben?"

Kai Homilius Verlag, 2006, Berlin,

http://www.kai-homilius-verlag.de,

http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=1640
_____________________________
hpblue - zurich - switzerland


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06.06.2006 15:37
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#2 RE: Buch von Heinz Dietrich: Kuba nach Fidel
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Rey/Reina del Foro

Zitat von hpblue
die Krise des Modells des historischen Sozialismus in Kuba ist strukturell, so wie sie es auch in der DDR und der Sowjetunion war. Sein ökonomisches System und der politische Überbau werden nicht in der Lage sein, den Bedingungen und Erwartungen der Bevölkerung des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden.

Das alte sozialistische Paradigma kann die kubanische Revolution nicht mehr substantiieren (stützen), da es nicht auf einer weiterhin gültigen historischen Wahrheit basiert, sondern auf einer Ideologie der Vergangenheit. In diesem Szenarium ist es nicht möglich, den revolutionären Prozess mittels einiger ökonomischer Verbesserungen dauerhaft zu konsolidieren, denn das Ausmaß der Krise ist strategisch. Es handelt sich um den Verlust eines Historischen Projektes. Taktische Maßnahmen werden nicht ausreichend sein, um das System zu stabilisieren.



Der Karren wurde in Jahrzehnten in den Dreck gefahren, so dass alle Korrekturen jetzt zu spät kommen und oberflächlich bleiben.
Aber solange der Steuermann noch an Bord ist, dümpelt der Kahn noch einige Zeit dahin........., bis dann ein Teil der Passagiere ins Wasser fällt (bzw. gestoßen wird) und der andere Teil in ein moderneres und komfortableres Schiff umsteigt!!


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