Von der Kunst, sich treiben zu lassen

01.11.2004 11:37
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#1 Von der Kunst, sich treiben zu lassen
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Rey/Reina del Foro

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Von der Kunst, sich treiben zu lassen

Ein Mensch kann entweder denken oder genießen, und in Havanna fällt die Entscheidung zwischen den beiden Lebensstilen leicht. Ein Stadtbummel auf die kubanische Art

VON HENKY HENTSCHEL
FOTOS: BERND JONKMANNS

"Wenn man in den Hafen einläuft, ist der Anblick Havannas
einer der fröhlichsten und malerischsten, die man an den
Küsten Amerikas nördlich des Äquators genießen kann."
Alexander von Humboldt, 19.12.1800

„Komm, Deutscher! Ich zeige dir meine Stadt, aber ich zeige sie dir auf meine Weise. Ich zeige dir das, was du nicht sehen kannst, und wenn du es doch siehst, dann verstehst du es nicht, und wenn du es zu verstehen glaubst, dann kannst du es dir nicht erklären. Komm!“
Wir standen in der belebten Straße Obispo in der Altstadt Havannas, und gleich neben uns brüllte ein Radio den letzten Song des Salsakönigs Issac Delgado in die Häuserschlucht: „Ay, no hay que llorar, que la vida es un carnaval“ (Ach, man braucht nicht zu weinen, denn das Leben ist ein Karneval); beredter Ausdruck der von Absurditäten, Widersprüchen und Bürokraten gequälten kubanischen Seele. Odalys war schwarz wie Pech, schwärzer noch in ihrem weißen Gewand, sodass ihre Haut schon ins Blaue schimmerte, auch die in ihrem schönen Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem großen, roten, dicklippigen Mund und den dunklen Augen unter der intelligenten Stirn.

Sie trug einen weißen Turban auf dem Kopf, war Ärztin und seit zwei Tagen meine Nachbarin, denn ich hasse Hotels und habe mir eine kleine Privatwohnung gemietet. Odalys wohnte eine Hausnummer weiter, und jetzt stand sie wie vom Himmel gefallen neben mir, packte meine Hand und zog mich fort vom Getümmel der Obispo mit ihren Läden, ihren bunten, erst kürzlich renovierten Häusern und ihrem nie endenden Menschenstrom.

Die eigentliche, die wahre Altstadt, die Altstadt der Kubaner, begann schon eine Straße weiter. Bunt und schillernd, niemals in Eile, gelassen und trotz aller Sorgen harmonisch pulsierte hier das Leben. Männer in Uniform, Männer in Drillichhose, in Arbeitskluft, elegant gekleidete Männer, Kinder in Schuluniform, Frauen in jeder denkbaren fantasievollen Kleidung, vom knöchellangen Rock mit hüfthohem Schlitz bis zu Hotpants und winzigen Oberteilen, als gingen sie tatsächlich zum Karneval, kamen an uns vorüber und schauten mir forschend ins Gesicht, so forschend, wie wir Europäer es nie wagen würden. „Was bist du für einer?“, schienen sie zu fragen, und ich wusste keine Antwort, denn schon nach 48 Stunden in Havanna hatte ich mich verändert. Ich hatte gelernt, mich treiben zu lassen, und ich hatte gelernt, dass man hier mit jedem Menschen reden kann, und zwar auf eine leichte, intelligente, oft witzige Art und Weise.

Ich zeigte auf Odalys’ Kleider. „Warum trägst du nur weiße Sachen?“
„Ich habe ein Gelübde abgelegt. Ich will Tochter von Changó werden. Changó ist unser Gott des Krieges, des Feuers und des Donners. Schau!“ Sie zeigte mir eine Halskette aus roten und weißen Perlchen. „Das ist seine Kette. Seine Farben sind Rot und Weiß.“
Wir schlenderten die Straße hinunter, und Odalys schien auf sehr kubanische Weise auf Luftkissen zu gehen. Hin und wieder begrüßte sie einen weißen, braunen oder schwarzen Menschen, immer mit einem lockeren Zuruf, und so zeigte sie mir, was ich vorher nicht hatte sehen können: Der Rassismus in dieser Stadt pfiff tatsächlich aus dem letzten Loch.

Aus einem Hof kam wütendes Trommeln, vermischt mit rhythmischen Gesängen. Meine Ärztin zog mich hinein. Rund 20 dunkelhäutige Menschen tanzten auf engstem Raum zu den Instrumenten dreier Musiker. „Trommelfest“, sagte Odalys. „Trommelfest für Changó!“
Sie tanzte und zwang mich, dasselbe zu tun. Ihr Tanz war geschmeidige Erotik, ich selber kam mir eher wie ein Elefant vor. Beim Hinausgehen zeigte Odalys auf die vielen Türen im Hof. „Einzimmerwohnungen. Diese Höfe heißen Solares, weil sich hier die Hitze des Tages, der Sonne eben, sammelt.“

Draußen blieb sie vor ein paar besonders barocken Fassaden stehen. „Schau dir das an. Was glaubst du, warum sie jede glatte Fläche mit Reliefs und Ritzen und Schnörkeln versehen haben?“
Ich hatte keine Ahnung.
„Die Architektur von Alt-Havanna war ein einziger Kampf gegen die Sonne. Deshalb die schmalen Gassen, deshalb der Versuch, mit allen Mitteln der Baukunst Schatten zu erzeugen. So ist der „kubanische Barock“ entstanden, und inzwischen hat er sich auch ein wenig in unsere Art zu denken eingenistet.“

Wir kamen nach Centro Habana, der ersten Ansiedlung außerhalb der ehemaligen Stadtmauern. Hier sah es häufig aus, als habe eine Bombe eingeschlagen, denn bis hier waren die Sanierer des Stadthistorikers noch nicht vorgedrungen. Ihre Arbeit konzentrierte sich auf die Altstadt. Odalys blieb stehen und zeigte auf ein noch gut erhaltenes, dreistöckiges Gebäude.

„Unsere Stadtviertel sind Ausdruck einer Geschichte, die erst mit dem Sieg der Revolution zu Ende ging. Die Geschichte ist einfach: die Flucht der Reichen vor den Armen. Erst sind sie hierher ausgewichen, dann nach Vedado, dann nach Miramar. Vedado werde ich dir zeigen. Miramar brauchst du nicht zu sehen: Prunkbauten und Botschafen in ihren Parks. Das kannst du auch in Los Angeles anschauen.“

In Vedado saß John Lennon in Bronze auf einer öffentlichen Parkbank, bewacht von einem vom Staat abgestellten Leibwächter im Schatten Indischen Lorbeers und sehr relaxed. Um den Platz herum standen einstöckige Villen mit kleinem Garten, manche altersschwach, manche gut erhalten, architektonische Juwelen, die vom Reichtum ihrer früheren Besitzer erzählten. Die allerdings hatten sich längst nach Miami abgesetzt. Jetzt herrschte nostalgische Stille.

„Stadt der Säulen“ hat der Schriftsteller Alejo Carpentier Havanna genannt. „Hier kannst du kilometerweit durch ein Gewitter gehen, und du wirst nicht nass.“
Sie zog mich zwischen zwei Säulen durch, die Balkone trugen, und diese Kolonnaden, diese Wildnis von Säulen reichten tatsächlich kilometerweit. Wir waren jetzt im Stadtteil Cerro und dann im Viertel Diez de Octubre und dann in La Lisa, und der Verkehr floss ohne Aggression und gemächlich, und ich spürte, wie die Stadt mich aufzunehmen begann, die Stadt mit ihrem Zauber, und Odalys an meiner Seite erwärmte mich noch mehr als die Sonne, und meine Schritte wurden leichter und leichter, und dieses Gefühl zu schweben kannte ich aus keiner anderen Stadt.

„Ich habe Hunger“, sagte meine Führerin. Odalys steuerte auf eine Warteschlange zu. Schon bei meiner Ankunft hatte ich festgestellt, dass die Habaneros nichts häufiger tun, als Schlange zu stehen. Aus dem Fenster eines winzigen Zimmers wurden Pappschachteln gereicht. Die Schachteln enthielten ein komplettes Mittagessen mit Fleisch, Reis, Bohnen, Gemüse und Salat. Auf Wunsch gab es eine Gabel, und das Ganze kostete, Fruchtsaft eingeschlossen, 22 kubanische Pesos – knapp einen Dollar.

Wir aßen mit Behagen, auf der Stufe eines Hauseingangs sitzend, und mein Kopf stellte jetzt endgültig das Denken ein, denn der Mensch kann entweder denken oder genießen, und in dieser Stadt war die Entscheidung zwischen den beiden Lebensstilen schon programmiert, lange bevor ich sie schließlich traf. Ihr Surrealismus hatte den Europäer in mir schlicht zum Schweigen gebracht.
Dann standen wir im Parque Lenin, ein gutes Stück außerhalb im Süden des Zentrums, und schauten den Kindern zu, Kindern auf dem Kettenkarussell, auf der Achterbahn, auf Mondraketen, auf Ponys, Kindern in einem richtigen Zug, der nur für sie fuhr. Odalys lächelte ihr offenes, aber deswegen nicht weniger verführerisches Lächeln und sagte: „Kinder sind für uns das Wichtigste im Leben. Für Kinder tun wir Kubaner alles.“

„Fahren wir Achterbahn? Was kostet das? Ich will auch mal wieder Kind sein.“
„Es kostet einen Peso. Sogar für Ausländer wie dich.“ Ein Peso, das war weniger als vier Cent. „An solchen Sachen wie dem Park hier kannst du sehen, worauf diese Revolution eigentlich hinauslaufen sollte. Aber die Amerikaner haben uns mit ihrem Embargo alles vermasselt.“
Wir fuhren Achterbahn, und ich wurde wieder zu einem kleinen Jungen, und Odalys schmiegte sich an mich, obwohl sie grenzenloses Vertrauen in kubanische Technik hatte. Von hier oben sah man die künstlichen Seen, die die Revolution angelegt hatte, und die Zigtausende von Bäumen, die sie gepflanzt hat, die Kunstgalerie und das Rodeo-Stadion, und mein Kopf schaltete sich wieder zu, und ich dachte: „Hut ab!“

Wieder auf festem Boden, mieteten wir zwei Pferde und galoppierten über weite Wiesen, trabten durch einen Wald, jagten wieder zurück und genossen die saubere Luft. Als wir zurück waren, stand José Gómez mit seinem Töchterchen da. José ist ein Berg von einem Mann und Olympiasieger und Weltmeister im Boxen, wie mir Odalys erzählte. Der Berg drückte meine Hand vorsichtig, denn er wollte sie nicht zerquetschen. Menschen erkannten ihn und riefen ihm zu, aber auch die Stars sind hier anders als in anderen Ländern. José grüßte fröhlich zurück, das war alles. Niemand verlangte ein Autogramm von ihm, niemand wartete mit einem Werbevertrag in der Tasche. Der Star war ein Mensch wie du und ich. Und Odalys behandelte den Bären ganz einfach wie einen guten alten Bekannten.

Später, zurück in der Altstadt, saßen wir in einem Straßencafé und tranken den unverzichtbaren Mojito, während wie immer und überall Musik in Disco-Lautstärke die Gespräche zerschlug. Wir blickten stumm auf eine Straße hinaus. Links lag ein hohes Gebäude, auf dessen Dach Figuren standen wie aus einem riesigen Schachspiel. Am Ende der Straße reckte sich die Kuppel des Capitolio in den Himmel, und rechts stand das Museum der Schönen Künste. Über der Kuppel da vorne wölbte sich ein wolkenloser, hoher Himmel, der langsam tiefblau wurde, indigofarben mit goldenen Fäden darin, violett (jetzt sahen die Schachfiguren plötzlich aus wie schwer bewaffnete Männer, die auf uns zielten), dann mischte sich noch ein rosaroter Schimmer in das Violett, und dann war es schlagartig Nacht.

Ich nahm die Hand meiner Begleiterin. „Odalys, du hast mir einen der schönsten Tage meines Lebens geschenkt, und du hast mich dabei wirklich Sehen gelehrt. Ich möchte dir auch etwas schenken. Was möchtest du haben?“
Mit einem Ruck entzog sie mir ihre Hand, ihr Kopf fuhr herum, ihre Augen schossen Blitze. „Willst du mich beleidigen? Glaubst du, Kubaner haben keine Ehre? Hast du zu viele Jineteras, leichte Mädchen, gesehen und denkst jetzt, jede kubanische Frau lasse sich kaufen?“

Wütend trommelte sie auf den Tisch. Ich bat sie um Entschuldigung. Ich hätte von der Armut in Kuba gehört, sagte ich. Sie solle es nicht falsch auffassen, sagte ich. Zweitausend Dinge sagte, nein, brüllte ich über die Musik hinweg, dann war das Eis wieder geschmolzen.
„Im Übrigen bin ich sowieso noch nicht fertig mit dir. Wir müssen noch auf den Malecón. Der Malecón ist die schönste Straße Kubas.“

Unter den alten Bäumen des Prado (Paseo de Martí) gingen wir zum Meer. Odalys hatte meinen Arm genommen. Links erschien das beleuchtete Schild eines Hotels, und mit einem Mal wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit über etwas gestolpert war, etwas Merkwürdiges, was ich nicht benennen konnte bis zu diesem Augenblick: Der Zauber der Stadt bestand nicht nur in ihrer architektonischen Schönheit, nicht nur im lockeren Gebaren ihrer Bewohner, nicht nur in der überall spürbaren Religiosität. Etwas ganz Einfaches half mir, dieses Gefühl der Leichtigkeit auszulösen, das mich seit dem Morgen nicht mehr verlassen hatte: Es gab keine Neonreklame. Es gab nicht die blinkenden Lichter der Großstadt, die zum Kauf verleiten sollen, diese Belästigung, diesen Versuch, aus den Menschen kaufende Tiere zu machen.

Ich teilte meine Erkenntnis Odalys mit. Sie nickte und sagte: „Ja, ich weiß. Ich war mal in Spanien. Für uns ist es verwirrend und böse, das mit anzusehen.“
Wir bogen auf den Malecón ein. Ruhig und schwarz lag das Meer da, die bunten Häuser mit ihren Säulen und Balkonen schienen zu schlafen. Eine warme Brise wehte durch die Nacht und verschaffte den Liebespaaren auf der Ufermauer Luft zwischen zwei Küssen. Jineteras suchten nach Kunden. Der Leuchtturm des Morro, der Festung am Hafeneingang, warf rhythmisch seinen Lichtstrahl hinaus in die Schwärze. Es roch nach Salz, Salpeter und Rum. Letzte Autos brausten vorbei, aber an der Ufermauer ging das Fest weiter, und es würde weitergehen, bis die Polizei es beendete.

Weiter vorne stand ein 58er Chevy. Aus seinem Radio quoll laute Salsamusik. Die Rumflasche kreiste, die Menschen tanzten. Inzwischen war ich besser geworden in diesem Sport, bildete ich mir ein. Oder lag es am Rum?
„Du denkst nicht mehr so viel“, sagte Odalys. „Daran liegt es.“
Trotzdem tanzte sie mich in Grund und Boden in dieser warmen Nacht unter dem bestirnten Himmel, und dann stieg mir der Rum in den Kopf, und wir lachten und lachten, ohne zu wissen, warum.


http://www.adac-verlag-gmbh.de/magazine/...gen/havanna.php

(Stand schon mal im Forum ;-)

Moskito


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