Zwei Pesos, drei Fotos

08.09.2004 08:07 (zuletzt bearbeitet: 08.09.2004 08:09)
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#1 Zwei Pesos, drei Fotos
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DER SPIEGEL 37/2004 - 06. September 2004
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,316778,00.html
Eine Meldung und ihre Geschichte

Zwei Pesos, drei Fotos

Warum ein toter Kubaner dreimal über den Atlantik flog.

Seine erste Reise, die seine letzte wird, beginnt Wilfredo Colón barfuß. Er klettert über den Zaun, der ihn trennt von der Welt, und geht durch ein Maisfeld. Am Ende des Feldes sieht er die Startbahn, Aeropuerto Varadero, República de Cuba. Flugzeuge steigen auf und verschwinden in einem Himmel, aus dem sie irgendwann hinabschweben in Länder, die leuchten in Wilfredos Träumen.


AP
Airbus A330
In seiner Hosentasche trägt Wilfredo das Bild eines Flugzeugs, herausgerissen aus einem Reisekatalog. Das Bild zeigt einen Airbus A330 der spanischen Fluggesellschaft Iberia, weißer Rumpf mit rot-gelben Streifen. Vielleicht soll das Bild ihm nur helfen, das Modell zu erkennen. Vielleicht macht er im Zwielicht der Dämmerung einen Fehler. Als ein Flugzeug mit grauem Rumpf und rot-weißen Streifen zur Startbahn rollt, nimmt er dieses.

Er hat nur wenige Minuten. Unmittelbar vor der Startbahn stoppt der Airbus A330, LTU, Kennzeichen D-ALPC. Es ist der Moment, in dem die Piloten die letzten Checks durchführen und auf die Starterlaubnis warten. Nur hier draußen auf dem Rollfeld sind die Maschinen unbewacht, nur diesen einen Moment lang. Wilfredo stürzt aus dem Maisfeld und rennt. Er läuft unter den Rumpf der Maschine, zum Hauptfahrwerk. Er steigt auf den Reifen, klettert am Bein des Fahrwerks hoch und kriecht in den Schacht, in den das Rad später einfahren wird.

Um 20.43 Uhr gibt der Pilot vollen Schub, und Flug LT 433, Destination Düsseldorf, steigt in den Abendhimmel über Varadero.



DER SPIEGEL
Aus der "Berliner Zeitung"
Das Fahrwerk fährt ohne Probleme ein. Der zwei mal drei Meter breite, einen halben Meter hohe Schacht ist so dimensioniert, dass die Hunderte Grad heißen Bremsen abkühlen können. Es ist heiß in diesen ersten Minuten, Wilfredo zieht sein Muskelshirt aus. In der Kabine blicken die Passagiere ein letztes Mal auf Kuba hinab. Im Fahrwerkschacht liegt Wilfredo in Dunkelheit.

Vielleicht hätte er wissen müssen, dass dort oben der Tod auf ihn wartet. Aber das Leben, durch das er dort unten driftete, war keines mehr. Und wäre es klüger gewesen, hinüberzufahren nach Cárdenas, wo sie nachts die Flöße ins Wasser lassen, um nach Florida zu flüchten, Nussschalen, mit denen sie kentern und ertrinken, bevor die Haie sie holen?

Wilfredo Colón Dias kommt am 13. Januar 1984 in Santiago de Cuba zur Welt, dem Ort, an dem ein glatt rasierter junger Anwalt namens Fidel Castro Ruz die Revolution begann. Die Straßen sind voller Löcher, die Wasserleitungen porös, Häuser kollabieren. Die Haut der Menschen im Stadtteil La Risueña ist dunkel wie Kaffee mit einem Schuss Milch, und wer es wagt, die Früchte der Revolution zu fordern, dem nimmt die Regierung die Arbeit oder das Recht, einen Gasherd zu kaufen.

Am Tag, an dem die Parteizeitung "Granma" eine durchschnittliche Lebenserwartung von 76,6 Jahren in Kuba verkündet, hat Wilfredo seine letzte Reise bereits begonnen. Das Flugzeug, in dessen Fahrwerkschacht er liegt, steigt etwa 1000 Meter in der Minute. Der Sauerstoff, der Wilfredo zum Atmen bleibt, ist schnell verbraucht. "Tod durch Ersticken" wird der Gerichtsmediziner später in das Obduktionsprotokoll schreiben, Sektionsnummer 773. Wann genau Wilfredo aufhört zu atmen, kann der Gerichtsmediziner nicht sagen, nur, dass Wilfredo seit Tagen tot ist, als er ihn am 21. Juli auf seinem Operationstisch seziert, Gerichtsmedizin Düsseldorf, Moorenstraße 5, Gebäude 14.84.

Er wird die Organe untersuchen und feststellen, dass Wilfredo gesund war. Er wird den Körper vermessen und wiegen. 1,72 Meter, 58,5 Kilogramm. Die Farbe der Augen kann er nicht mehr erkennen, weil die Leiche "abwechselnd schockgefroren und wieder aufgetaut wurde" und "entsprechende Fäulniserscheinungen" aufweist. Im Ausweis steht "ojos pardos", eine Farbe irgendwo zwischen der von Honig und Kastanien.

Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf, Abteilung für Kapitalstraftaten, wird keine Hinweise auf Fremdverschulden feststellen und die Ermittlungen einstellen, Aktenzeichen 10UJs1762-04.

Fast alles werden die Ermittler über Wilfredos Tod erfahren. Aber nichts über sein Leben. Liebte er ein Mädchen? Tanzte er den Son? Die Bilder, die Wilfredo in seiner Geldbörse trägt, erzählen eine unvollständige Geschichte. Eines zeigt seine Mutter, ihr Name steht auf der Rückseite. Ein anderes, schwarz-weiß, zeigt ein Mädchen mit Pferdeschwanz. Der Ermittler wird das Bild betrachten und sagen: "Es könnte die Schwester sein." Das blonde Mädchen auf dem dritten Bild erkennt der Ermittler sofort, es ist Avril Lavigne, die kanadische Rocksängerin.

Das ist alles, was Wilfredo bei sich trägt. Das und zwei Ein-Peso-Scheine.

Am Morgen des 20. Juli landet Flug LT 433 um 7.42 Uhr in Düsseldorf. Der Fahrwerkschacht, in dem Wilfredo liegt, ist kein Teil, der die Flugsicherheit gefährden könnte, er wird nur einmal in der Woche kontrolliert. So überquert Wilfredo in diesem Schacht dreimal den Atlantik: Zweieinhalb Stunden nach der Landung in Düsseldorf, um 10.05 Uhr, hebt der Airbus ab in Richtung Punta Cana, Dominikanische Republik, Flug LT 446. Dort landet die Maschine um 13.30 Uhr Ortszeit, um 15.15 Uhr fliegt sie zurück nach Düsseldorf.

Wilfredo fliegt durch 16 Zeitzonen, 22 638 Kilometer weit. Am Ende wird er als Asche nach Kuba zurückkehren.

Am Morgen des 21. Juli, 7.27 Uhr, setzt Flug LT 447 in Düsseldorf auf. Am Flugsteig C46 stoppt die Maschine, der Pilot stellt die Triebwerke ab. Eine Technikerin klettert auf eine Leiter und blickt in den Fahrwerkschacht. Dort liegt Wilfredo, gefroren, ohne Schuhe.

Er wusste nicht, welcher Weg vor ihm lag.

MARIO KAISER


Glückskekse

Yer Baby!


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08.09.2004 09:37
avatar  TJB
#2 RE:Zwei Pesos, drei Fotos
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TJB
Top - Forenliebhaber/in

Dieser Bericht geht unter die Haut. Und alles könmnte so schön sein, wenn FC nicht wäre


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08.09.2004 09:59
avatar  jhonnie
#3 RE:Zwei Pesos, drei Fotos
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Cubaliebhaber/in

Der Bericht geht wirklich unter die Haut.
Ein Gefühl zwischen Trauer und Wut kommt in mir dabei hoch.


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08.09.2004 19:19
avatar  Che
#4 RE:Zwei Pesos, drei Fotos
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Che
Top - Forenliebhaber/in

Meine Frau war sehr traurig, nachdem ich ihr den Artikel übersetzt hatte.
Wird Zeit, dass FC abdankt.


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08.09.2004 23:53
#5 RE:Zwei Pesos, drei Fotos
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Top - Forenliebhaber/in

An der spärlichen Reaktion kann man die Betroffenheit ablesen.
Ich habe einen dicken Kloß im Hals und unbeschreibliche Wut.
Ich fühle mich verbunden mit allen, die ähnlich empfinden. Es sind sicherlich mehr als 3 hier im Forum.
Gebe allerdings nicht pauschal der Revolution die Schuld, sondern der Propaganda der Anderen Seite vom glücklicheren Leben im materiellen Überfluß.
Ich trauere mit seiner Familie. Möge der Junge den Verantwortlichen zur Seelenqual werden.
P.


Alles wird gut, immer nur lächeln! (schön wär's)


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09.09.2004 00:25 (zuletzt bearbeitet: 09.09.2004 00:25)
avatar  Cuba59 ( gelöscht )
#6 RE:Zwei Pesos, drei Fotos
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Cuba59 ( gelöscht )

leider saß ich in der LTU maschine am 20.7., doch ich konnte dem armen kerl nun auch nicht mehr helfen. es wundert mich allerdings schon wie er es in den schacht geschafft hat, denn hinter dem flieger fährt immer eine "eskorte".
der tod durch sauerstoffmangel in grosser höhe fängt allerdings mit grosser "euphorie" an (wenn man dass so sagen kann). hätte er mal in seiner euphorie vorher etwas über atmosphäre gelesen. die meisten "fahrwerksschacht-flüchtlinge" nutzen lieber den flieger nach miami, der fliegt nicht so hoch...
es bleibt trotzdem traurig, dass menschen dieses risiko eingehen müssen.


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09.09.2004 13:20
#7 RE:Zwei Pesos, drei Fotos
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super Mitglied

Buenos todos, schon als ich den Beitrag in der Sendung "Brisant" sah war ich total geschockt!!!! Wie verzweifelt muss der Junge gewesen sein, das er diesen Schritt gewagt hat!!! Mich kotzt dieses Kuba so sehr an, das ich die nächste Zeit nicht mehr hinfliegen will. Ich liebe meine Freunde über alles, aber dieses System geht mir so was auf den Senkel.Man schleppt immer Unmengen rüber und trotzdem ist es nie genug. Die Leute sind sehr dankbar, aber man fühlt sich ohnmächtig gegenüber dem Gesetz. Das fängt schon damit an, das man nicht bei seinen Freunden übernachten darf, weil es das "Gesetz" nicht erlaubt. Und da fühle ich mich schon in meiner Freiheit eingeschränkt. Nur weil FC die Devisen haben will. Sie alle wissen doch, wenn der Commandante sein Volk besser behandeln würde, wäre so etwas wie mit dem Wilfredo nicht passiert. Que tenga un buen tiempo.


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