Die Magie der Wirklichkeit

19.04.2004 15:20
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#1 Die Magie der Wirklichkeit
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Rey/Reina del Foro

REZENSION :

Harald Irnberger
Gabriel García Márquez. Die Magie der Wirklichkeit. Biographie

Verlag: Artemis & Winkler
Erscheinungsjahr: 2003
Preis: 24, 90 EUR
ISBN 9-783538-071698

Der lateinamerikanische Patriot

Sandra Schürer

Wer ist Gabriel García Márquez? Mit Harald Irnberger versucht ein weiterer Journalist den Lebensweg des Nobelpreisträgers aus Kuba nachzuzeichnen. Irnberger verfolgt mit seinem Buch das Ziel, den "Raum zwischen Mythos und Wirklichkeit" zu erkunden. Dabei steht die intensive Beschäftigung mit der Entwicklung der Person Márquez und seinem literarischen Wirken im Vordergrund. Aus diesem Grund hat Irnberger der Gliederung seines Buches besondere Bedeutung zukommen lassen. In vier Kapiteln, auf über 380 Seiten erzählt er Márquez´s Leben
Im ersten Teil schildert Irnberger die "Welt von Macondo", in welcher der 1927 geborene, junge Márquez, aufwuchs. Dabei ist besonders interessant, dass die Großeltern Márquez´s eigentliche Inspirationsquelle sind. So erbt er von der Großmutter "die stoische Art, die ungeheuerlichsten Dinge zu erzählen". Die Themenvorlagen zu diesen Geschichten liefert der Großvater. Márquez beschreibt dies folgendermaßen: "Er hatte oft mit mir über den Bürgerkrieg gesprochen, und daher stammt das Interesse an dieser historischen Epoche, ..."
Doch was hat Márquez schließlich zum Schriftsteller gemacht? Bei der Klärung dieser Frage strapaziert Irnberger seine Leser mit ständigen Vergleichen zwischen Begebenheiten aus Márquez´s Leben und seinem Werk.

Im Gegensatz zur Geborgenheit bei den Großeltern steht die Márquez’s Flucht in die Einsamkeit. Er schließt sich "teils geradezu manisch in die Welt der Bücher ein", denn diese sind für ihn wichtiger als die Realität. Nach Auffassung von Irnberger ist der Einfluss des Elternhauses auf die künstlerische Entwicklung Márquez`s "unerheblich".
Einem Aufruf der Tageszeitung "El Espectador" folgend sendet dieser seine Erzählung "Die dritte Entsagung" ein. Bereits wenige Tage später, im September 1947, wird sie gedruckt, bis 1949 weitere fünf.

Auf die Kindheit folgen im zweiten Teil des Buches die "Lehr- und Wanderjahre". Dank seines Freundes Alvaro Mutis wird Márquez zum Starreporter des "Espectador" in Bogota. Seine politisch kritischen Berichte sind von journalistischer Brillanz. Damit gerät er jedoch auch ins Fadenkreuz der Behörden. 1955 wird Márquez als Reporter nach Europa geschickt. Zu seinen Stationen zählen dort u.a. Genf, Wien, Paris sowie einige Ostblockstaaten.
Vier Jahre später kehrt er Europa den Rücken. Er lebt nun in Caracas. Bei der Agentur Prensa Latina findet er nach Meinung Irnbergers die "ideale journalistische Heimat". Márquez arbeitet für die Agentur in Kuba und in New York. Nur beiläufig erfährt der Leser, dass er Márquez inzwischen verheiratet und Vater eines Sohnes ist. Damit weicht der Autor von seiner detailgetreuen Schilderung des privaten Umfeldes aus dem ersten Teil ab.

Im dritten Kapitel über den "Lohn der Geduld" beschreibt Irnberger, wie schwierig es sich für Márquez gestaltet, das Schreiben an seinem Roman mit dem alltäglichen Gelderwerb zu vereinbaren. Doch 1967 erscheint sein Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" bei Sudamerica in Buenos Aires. Innerhalb weniger Tage verkauft sich das Buch über 100 000 Mal. Das Publikum feiert Márquez. Der flieht vor dem Trubel nach Barcelona, wo er bis 1974 an "Der Herbst des Patriarchen" arbeitet. Beide Romane werden als Epochenwandel in Lateinamerika gesehen. Am 22.Oktober 1982 erhält Márquez aus der Hand des schwedischen Königs den Literatur-Nobelpreis.
An diesen Erfolg schließt sich im vierten Kapitel des Buches Márquez’s "Lebensinventur" an. Darin gibt Irnberger u.a. Einblick in dessen Engagement für junge Schriftsteller und die Freundschaft zu Fidel Castro. Irnberger beschreibt das Verhältnis als brüderlich. Für Márquez ist die kubanische Revolution das wichtigste historische Ereignis. Von der Rhetorik Castros ist er besonders beeindruckt.

In mühevoller Detailarbeit folgte Irnberger seinem Vorsatz, den "Raum zwischen Mythos und Wirklichkeit" zu füllen. Das Ergebnis ist eine gelungene Biographie über den brillanten kolumbianischen Autor Gabriel García Márquez, der, so Irnberger, ein "vollendetes Werk geschaffen" hat, "das ihn unsterblich macht".


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20.04.2004 10:19
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19.4.2004
"Hundert Jahre Einsamkeit"
Johann Kresnik inszeniert Gabriel García Màrquez für die Oper Bonn
Von Karin Fischer

Der Regisseur Johann Kresnik (Foto: AP)

Als in Kuba vor einem Jahr über 70 Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, haben sich viele der alten Mitstreiter vom "maximo lider" Fidel Castro distanziert. Nicht so der Nobelpreisträger und in Lateinamerika fast mythisch verehrte politische Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez. Der Schriftsteller und der Revolutionsführer sind seit langem eng befreundet; die ideologische Allianz mit dem Genossen scheint über der politischen Gewalt gegen die eigene Zunft zu stehen.
Elefantentreue herrscht auch zwischen Johann Kresnik und dem eigenem "politischen Tanztheater" in der ersten Uraufführung für Bonn. Das Publikum der Bundesstadt konnte einige der künstlerischen Titanen oder historisch gewordenen Märtyrer, denen Kresnik Stücke widmete, schon kennen lernen: Frida Kahlo beispielsweise und Pablo Picasso. Das personifizierte große Leiden hieß Nietzsche oder Goya, Rosa Luxemburg oder Ulrike Meinhof; zuletzt stellten Kresniks "10 Gebote" braven Bremer Kirchenleuten die Frage nach Toleranz und Kunstfreiheit, über die sie prompt stolperten.

Jetzt steht mit der Familie Buendía aus "100 Jahre Einsamkeit" auch die Opfer-Geschichte eines ganzen Kontinents mit auf der Bühne, und Kresnik nutzt das plakativ und praktisch unverschlüsselt für seine Kritik an Globalisierung und Krieg: Melchiades ist im Roman eine Art poetischer Zauberlehrling, der die Wunder der Welt ins abgelegene Dorf bringt. Kresnik macht ihn kurzerhand zum Handlanger kolonialistischer Interessen, indem er ihm die amerikanische Flagge auf den Körper malt. Melchiades bringt nicht nur das Eis, sondern auch den Krieg nach Macondo, und aus der "Illusionsmaschine" des Romans macht Kresnik zusammen mit dem kolumbianischen Bühnenbildner Carlos Rios eine Video-Projektion mit Ausschnitten aus der Comic Serie "South Park" samt Saddam-Komik. Man muss gut adornitisch denken, um das nicht platt zu finden: immerhin wird hier im Wortsinne vorgeführt, wie die Bewusstseins-industrie auch noch das us-amerikanische Hegemonialstreben in lustigen Häppchen zu "verkaufen" vermag. Und die Opfer der Marquezschen "Bananengesellschaft" - beim Streik gegen die United Fruit Company wurden 3000 kolumbianische Bananenarbeiter getötet - verröcheln ihr Leben unter einem riesigen blaugelben Chiquita-Banner. Erst kommt der Karren mit goldgelben Früchten, dann die großen Messer, dann der Krieg. Wo die Großkapitalisten ihre so genannten Segnungen hinbringen, bleiben am Ende nur Tod und Elend: Kresnik hat für seine unmissverständliche Botschaft eigens Versehrte mit Beinprothesen gecastet. Der Irak lässt grüßen.

Das ist alles so überdeutlich und wenig subtil, dass es ärgerlich wäre, würden diese politischen Zeichen im phantastischen Bühnen-Zauber Kresniks nicht auf- bzw. untergehen wie eine Zirkusnummer im Tusch der Zirkuskapelle. Im Strom der Ereignisse ist selbst der Krieg nur eine Episode. Kreisförmig wie das Werden und Vergehen der Buendía-Familie ist das Bühnenbild angelegt, mit drei auf Schienen beweglichen halbrunden Podesten, die einen abweisend-abstrakten Hintergrund bilden, nach vorne geschoben aber ein variables Innenleben aufweisen. Hier wird, lateinamerikanisch blutvoll (einer der Söhne trägt locker 1 1/2 Meter Schwanz mit sich herum), das Leben mehr erobert als ertanzt: gewaltsam geheiratet, derb geliebt, schnell geboren; zehn Meter lange Unterröcke und eine Braut, die noch ein Kind ist, sind kein Hindernis. Verletzliche Nacktheit und verstörende Kraftmeierei halten sich die Waage, Sexualität ist noch Spiel, weniger Unterdrückungs-Instrument, die Bösen, das sind die anderen, die ihre Hände in Blut tauchen und ihre Körper hinter Ideologien verstecken. Kresnik lässt mit realistischem Zubehör - Hängematten, Strohhüten, Masken, Messer - eine überaus phantastische Welt entstehen, er hat einen Reigen choreographiert, in dem sich schnelle, grelle Ensemble-Szenen mit Bildern von großer Kraft und Poesie abwechseln.

Immer anwesend ist die alte Ursula Buendía, die Kresnik als sich Erinnernde zum Mittelpunkt des Stücks gemacht und mit einem Mann besetzt hat. Ihre Einsamkeit und ihr schmerzhaftes Erinnern sind in ein paar schöne Pas de Deux' gegossen, ein sprechender Kontrast zu den überbordenden Familiengeschichten; ihr zu folgen bedeutet, sich ins Labyrinth der Erinnerung zu begeben, wo Schönheit und Schrecken eine chaotische Verbindung eingegangen sind. Es ist nicht sicher, ob die Zuschauer sich in Kresniks oft ebenso labyrinthischer Bilderfolge immer zurecht finden, zumal die Kreisförmigkeit der Erzählung auch keinen eindeutigen Spannungsbogen zuläßt.

Darüber hinaus wird die Musik streckenweise zur dominanten dritten Kraft, dräut heftig und symbolschwer; sie muss die mangelnde Charakterisierung der Figuren aufwiegen. Und so ist Kresniks neue Choreographie eine Wunderkammer voll reicher Schätze und wie immer echtes Schautheater geworden; aber auch ein Bildersturm, der über uns hinwegfegt, ohne mehr als ein buntes Puzzle zu hinterlassen.

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