Varadero: Auszug aus einem Reisetagebuch (Teil V)

02.11.2007 08:06
#1 Varadero: Auszug aus einem Reisetagebuch (Teil V)
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Forums-Senator/in

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Er heißt José und hat irgendetwas Plüschiges an sich (plüschige Muskelpakete – ein blödes Bild). Er ist mir gerade nachgeschwommen und hat mir draußen im Meer zugerufen, ob ich an Muscheln interessiert sei. Ich rufe ihm durch die – heute sanften – Wellen zu, dass ich ohnedies schon viele gesammelt hätte. Nein, die meint er nicht. Sondern die großen gedrehten, riesigen wie sie nur die Fischer auf hoher See finden. Ich sage ihm, dass ich die spanische Phrase "hablar del mar y los peces" ("vom Meer und den Fischen" – statt wie auf Deutsch "über Gott und die Welt sprechen") so gerne mag und bringe ihn damit aus dem Konzept.

Er fragt, ob er sich neben mich in den Sand setzen dürfe "para conversar". Er sei Bauarbeiter, komme aus Santiago, aber habe großes Glück, hier in Varadero zu sein. Er sei ausgebildeter Mechaniker.

Heute sei sein freier Tag. Hierzulande gäbe es einen freien Tag in der Woche. Aber manchmal müsse man für "la patria" Sonderschichten machen. Viele würden Sonderschichten machen, weil sie dann Gutpunkte und Sonderessensmarken bekämen. Er nicht. Es gäbe ohnedies nichts mehr in den Geschäften. Nichts gäbe es mehr für Pesos. Er verdiene umgerechnet US-$ 10 im Monat. Mit diesen US-$ 10 solle er dann im Dollar-Geschäft zu den gleichen Preisen wie die Touristen einkaufen. Das höchste Bestreben aller sei es daher, an Dollar zu kommen – egal wie. Er verkaufe eben Muscheln. Ich frage, ob es "illegale" Muscheln seien? Er antwortet nicht, er werde – wenn ich interessiert sei – mit einem bekannten Fischer sprechen, der würde dann eine passende Muschel aus dem Meer holen. Er würde sie dann am Freitagabend – nein besser am Sonntag (da sei es ungefährlicher, da das sein freier Tag sei und er sagen könne, dass er an den Strand komme, um sich auszuruhen, er wolle keine Probleme und vielleicht als jinetero verhaftet werden) hierher bringen. Ich kann das ganze nur bewundern – all dieser Aufwand für eine Muschel – und bekunde daher mein Interesse.

José kann sich kein Bild von Österreich machen, wechselt ständig zwischen Austria und Australia. Fragt, wie oft wir Fleisch essen würden. Hier könne man nicht einmal mehr den arroz con frijoles so kochen wie es sich gehöre. Er habe solche Lust auf Fleisch. Ich sage ihm, dass bei uns die meisten Leute essen könnten, was sie wollten. Füge aber schnell hinzu, dass die Menschen aber deswegen nicht glücklicher seien. Hilfloser Versuch, diese Ungerechtigkeit irgendwie zu verwischen. Wieso nicht glücklich, wenn sie alles, was sie zum Essen bräuchten, kaufen könnten?



In Antwort auf:
Am frühen Abend gibt es meistens eine Sendung über Kunst. Eine ältere blonde Dame interviewt einen Künstler auf einem geblümten Sofa. Es wird betont, dass "el periodo especial” auch für die Künstler eine besondere Herausforderung darstelle. Manchmal gibt es um diese Zeit auch eine Telenovela, mit Kapitalisten in großen Häusern und schwarzen Hausangestellten, in der prärevolutionären Zeit. Die "Nachrichten" werden oftmals von einem sympathischen Typen in Jeanshemd, ohne Sakko und Krawatte, vorgetragen. Die imperialistische Nato attackiert Jugoslawien. Kein weiterer Kommentar. (Aber hier im Hotel kann man ja einfach zu CNN surfen und den in dramatischen Bildern eingefangenen Krieg am Bildschirm sozusagen live mitverfolgen.) Cubanische Ärzte sind in Nicaragua gelandet, um ihr Wissen weiterzugeben. Ein "Parasit", der in einem Tonarchiv arbeitete, wurde von der Polizei verhaftet, weil er Tonbänder raubkopierte und an Touristen verkaufte. Bilder der Verhaftung. Weitere "kriminelle Elemente" werden vorgeführt. Mehrere Männer hatten heimlich eine Kuh geschlachtet. Viehdiebstähle mehren sich. Es wird hart durchgegriffen. In den Betrieben verschwinden Waren. Mehr Kontrolle ist notwendig. Mehr Effizienz wird von den Arbeitern gefordert. Das verwendete Vokabular klingt nach Diktatur.

Hauptabendprogramm: immer wieder die Revolution. Die Ereignisse werden analysiert und zelebriert. Fast täglich. Das Fortschreiten der Zeit wird durch eine Art ideologischer Zeitmaschine verhindert.

Heute redet ein alter Mann, der damals bei der Marine war. Paradoxerweise gibt es aber auch manchmal amerikanische Filme (jedoch keine europäischen oder kanadischen, zumindest nicht in den zwei Wochen). So sah ich vor ein paar Tagen Michele Pfeiffer in einem eleganten Abendkleid Champagner im Kasino schlürfen. Originalton mit Untertiteln.





http://www.caiman.de/11_07/art_2/index.shtml


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