Kuba - MERIAN 1979: Das glänzende Elend des fröhlichen Havanna - Rien ne va plus

13.02.2007 16:17 (zuletzt bearbeitet: 13.02.2007 16:18)
#1 Kuba - MERIAN 1979: Das glänzende Elend des fröhlichen Havanna - Rien ne va plus
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Forums-Senator/in
Kuba - MERIAN 1979

Habe ich heute gekauft – ein interessantes Juwel des Zeitgeistes zur Zeiten des RAF-Terrorismus - Als die Revolution noch die grenzenlose Bewunderung des linksliberalen Bürgertums genoss – sehr aufschlussreich (noch mit der „alten Rechtschreibung“)




Eliseo Diego

Das glänzende Elend des fröhlichen Havanna

Der Comandante sprach sein Rien ne va plus

Vor 1959 war Havanna eine Weltstadt aller Vergnügungen und Laster, das Bordell der Vereinigten Staaten mit etwa 20 000 Prostituierten, beherrscht vom US-Kapital und von der Mafia. Auf der anderen Seite eine schöne und elegante Stadt. Der Lyriker und Novellist Eliseo Diego erinnert sich an die glänzende Schauseite und das schiere Elend dahinter mit bissiger Ironie und spürbarer Betroffenheit

Fröhlich, bunt, retuschiert und voller Lärm war das Havanna der vierziger Jahre. Zauberhafte Leuchtreklamen schmückten seine Nächte; ein einziger Genuß für Auge und Intellekt: „TRINK COCA COLA", „ALLES IST BILLIGER BEI ,LA FILOSOFIA'" (ein damals bekanntes Kaufhaus in der Altstadt), „ICH GEHE MEILENWEIT FÜR EINE CAMEL", „SEI SCHLAU UND WÄHLE ANTONIO, DEN PRÄSIDENTENBRUDER".

Es machte wirklich Spaß, unter dem Tanz dieser Lichter durch die „spanischen" Kolonnaden zu bummeln und das Neueste vom Neuen in den Schaufenstern der eleganten Geschäfte zu bewundern. Da die ganze Insel katholisch war, appellierten Plakate neben den Modellen der aktuellen Badeanzüge mit diskreter Zurückhaltung an die tiefsten Überzeugungen der Gläubigen: „. . . FÜR IHREN OSTERURLAUB". Ja, ja, es war ein Mordsspaß, auch wenn im Winter von Norden eine kühle Brise wehte und wir auf dem Rückweg zu unserem chromüberladenen Straßenkreuzer in einer der düsteren Nischen unter den Säulen über ein hungriges Kind stolperten, das auf dem kalten Granitboden schlief, nur mit einer Zeitung bedeckt, die es im Gewühl der Dämmerung nicht mehr hatte verkaufen können. Man brauchte ja nur seine Begleiterin am Arm zu nehmen und mit einer witzigen Bemerkung darüber hinwegzusteigen. Eine kaum erwähnenswerte Unbequemlichkeit, denn das Körperchen war ziemlich abgemagert.

Alltägliche Szenen wie diese registrierte man allenfalls als zufällige Randerscheinungen der Konsumgesellschaft, als durchaus verständliche und eben unvermeidliche Begleitum- stände des freien Unternehmertums.

Ganz in der Nähe des Geschäftsviertels - es sollte ja alles schön einfach und unkompliziert sein - gab es einen Stadtteil, den die Polizei mit freundlicher Anteilnahme und wohlwollender Toleranz betrachtete. Dort standen die luxuriösen Herrschaftshäuser, in denen auch der raffinierteste Geschmack auf seine Kosten kam.

Seinen Appetit konnte auch jener stillen, der die Würze des Perversen nicht missen mochte. Für jene Zeit wäre das Wort ein Anachronismus gewesen, da es schließlich die - zugegeben etwas pathetische — Unterscheidung zwischen Gut und Böse voraussetzt. Doch warum soll man nicht ohne Scham zugeben, daß es Spaß macht, an so „Exquisites" auch nur zu denken? Macht denn nicht dieser Hauch des Perversen erst das eigentliche Raffinement des kultivierten Geschmacks aus? Wie dem auch sei, diese Villen genossen ein beträchtliches Ansehen, auch im Ausland. Viele solide Geschäftsleute ließen es sich nicht nehmen, von Miami oder sogar von Denver und San Francisco nach Havanna zu reisen, um sich dort einmal richtig zu amüsieren.

Es handelte sich also um ein ganzes Wohnviertel. Und dort gab es natürlich (natürlich?) auch Häuser für die bescheideneren Freuden des Lebens -hier und da für fast schon schäbige Genüsse. Jede Nachfrage fand dort ein marktgerechtes Angebot. Warum haben sich nur die Herrschaftshäuser mit ihren Pracht-Fassaden nicht einfach anderswo hinbegeben, an Orte mit besserer Nachbarschaft, die ihrem Anspruch mehr genügt hätten? Oder ist es müßig, darüber nachzudenken, da doch die Nähe des Verwerflichen der feinen Lebens art eine gewisse Würze gibt? Wie dem auch sei - jedenfalls stand in all diesen Häusern die uns Kubanern eigene exotische Sinnlichkeit zum Verkauf. Es fehlte auch nie an lukullischem Angebot. Wie schön ein Mädchen auch sein mag, es muß schließlich essen.

Und gleichgültig, ob man lesen und schreiben konnte - es war immer schwer, sich das tägliche Brot zu verdienen. Deshalb nahmen viele Mädchen die Freizügigkeit der Marktwirtschaft für sich in Anspruch. Ein bewunderungswürdiges System; vorausgesetzt, daß man in der Rolle des Konsumenten und die „Gebrauchsware" nicht unsere Schwester, Frau oder Tochter ist. Nimmt man andere zivilisierte Hauptstädte zum Maßstab, so überschritten die beschriebenen Freuden nicht die Grenze des auch dort Angebotenen. Sie werden daher wissen, daß die Größe und die Qualität des Angebotes gleich wichtig sind.

Die Kubanerin hatte zweifellos einen ganz eigenen Geschmack, unverkennbar. Wie diese seltsame Mischung von Rum und Coca-Cola. Dieses Getränk kennt man unter dem Namen Cuba Libre - ganz recht: freies Kuba. Kubanischer Rum und Sirup aus den USA (die Coca-Cola-Essenz wird ja nur in den USA hergestellt). Nicht gerade sehr erfreulich: dieses Gemix. Doch es ist ein gern geschlucktes Indiz der einst so guten Nachbarschaft, stand immer zu Diensten des Kunden. Angefangen hat alles an einem Ort mit dem schönen kubanischen Namen GARCIA'S Bar, unter den herrlichen nächtlichen Leuchtreklamen. Man braucht nicht viel Geist, um zu begreifen, daß die neue Hoch-Zeit ihre Wurzeln tief in Seelen geschlagen hatte, die nach Genuß von Unmengen des kostlichen Cuba Libre kaum noch stehen konnten. Und wenn es, um die Fiesta in Gang zu halten, nötig war, wurde mit dem Gesöff für Dollars wieder ein Stückchen „Cuba" auf- und abgegeben. Und der Rest von „Libre"?

Caramba, vergiß es, man lebt schließlich nur einmal. Der Reiz des aufregenden Glücksspiels darf auch nicht vergessen werden. Anfangs gab es außer Pferde- und Hunderennen ein oder zwei Casinos. Dort und auf den Golfplätzen konnte sich der Tourist aus dem Norden wie zu Hause fühlen. Wer wie er zu einer hochentwickelten Gesellschaft gehört, möchte sie gleichsam wie die Schnecke ihr Gehäuse mit sich nehmen. Und wenn er dann genug hatte vom Lokalkolorit, und wenn er dann auch ausreichend davon für die spätere Bewunderung und den Neid der Nachbarn auf den Film gebannt hatte, betrachtete er das Land nur noch als „Tour", die man „gemacht" haben mußte, und beurteilte es nach seinen Warenhäusern und der Möglichkeit, Coca-Cola, Whiskey oder Fruchtsäfte etablierter Marken in sich hineinzugießen.

Ich habe einmal einen Kriegsveteranen, der in seine Heimatstadt Atlanta zurückkehrte, über das Land Goethes sagen hören: „Die Landschaft ist recht malerisch, aber die Kaufhäuser können sich nicht mit unseren messen." Damit also Havanna in den Augen dieser Leute eine Reise wert war, mußten eben Pferde- und Hunderennen sein. Hier sollten wir eine melancholische Pause einlegen.

Denn da gab es noch etwas, das weder malerisch war noch für die Kameralinse interessant: die Nationallotterie und ihre entwürdigenden parasitären Nebenerscheinungen. Sie war für die Einheimischen eine trügerische Hoffnung, die plumpe Sehnsucht, eine Tür aus ihrem Elend zu finden. Für diese Menschen hatte die Lotterie nichts vom Nervenkitzel und von der elegant getragenen Ungewißheit eines Spielers, der mal eben beim Roulette ein Ölfeld setzt. Auf keinen Fall dürfen wir uns mit diesen Einzelheiten aufhalten, die so gut wie nichts zum sprichwörtlichen Vergnügungsangebot Havannas beitrugen. Natürlich lassen wir damit außer acht, daß die Armen mit ihrem Geld erheblich zum Wohlergehen der kopfreichen Polizei beitrugen, die — das gehörte einfach zum guten Ton - sich dem Ausländer in strammer Haltung und mit einem Lächeln im Gesicht zeigten, den Landsleuten gegenüber jedoch . . .

Nun, die unterentwickelten Gesellschaften machen Fortschritte, und das Vergnügen, das sie anbieten können, wächst, wenn die mächtigen Länder großzügig in ihnen investieren. Dazu braucht man natürlich eine starke Regierung, die — unverzichtbar für die Investoren — Ruhe und Ordnung erhält. Der General — pardon: Präsident - Batista war ein gutes Beispiel dafür. Unter ihm wuchs Havanna wirklich. Er sorgte dafür, daß Havanna den Himmel berührte. Und in den Wolkenkratzern und Hotels konnten sich die abgebrühten Geschäftsleute und lächelnden Touristen wirklich zu Hause fühlen, besonders wenn sie um die Tische herum die Gesichter der Gangster bemerkten, die sie schon vorher in gleichen Rollen in Filmen gesehen hatten. Höchst interessant und merkwürdig, nicht wahr?

Das ist der Pfeffer, der noch fehlte. Unterdessen begann eine andere Errungenschaft der Zivilisation ihre Blüten zu entfalten. Angefangen hat es eher klein und unbedeutend während der vierziger Jahre. Jeder weiß, daß die Überentwicklung, das Überangebot einen bis zum Überdruß anwidern kann, daß die Übersättigung nach dem Gegengift giert. „Rauschgift" heißt es in unserem Fall. Sowohl die Versorgung mit dem Grundstoff wie mit dem Endprodukt konnte dank der bereitwilligen Hilfe des verehrungswürdigen Generals — pardon: Präsidenten - sichergestellt werden.

Die „Demokratie" war ein Warenhaus -mit versierten Einkäufern, die um den Fortschritt der Wirtschaft immer sehr besorgt waren. Den Höhepunkt erreichen wir mit der Zarabanda, dem letzten Modetanz des fröhlichen Havanna. Die Congas und die neuesten Schlager dröhnen, tanzende Paare wirbeln durch die Luft und kreischen. Dann und wann stoßen sie gegen ein blutverschmiertes Paket, menschliche Körper, von denen niemand weiß, wie sie so plötzlich auf der Tanzfläche auftauchen konnten. Die Gläser laufen über von Cuba Libre, von Champagner und Whiskey und Bier, und dieser Überfluß vermischt sich auf dem Boden mit einer anderen, dickeren Flüssigkeit, die bestimmt von der Bloody Mary stammt; aber nein - doch es ist Menschenblut. Glücklicherweise tanzt man im Halbdunkel, läßt das verzaubernde Licht auch die Gehenkten wie eine malerische Hängedekoration erscheinen. Doch plötzlich schweigt die Musik, verstummen die Freudenschreie und das Knirschen gieriger Zähne.

Es ist - so der kubanische Sänger Carlos Puebla, wie ich ein Spielverderber — „Schluß mit diesem Vergnügen. Der Comandante (er meint Fidel) ist da und hat Einhalt geboten".


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13.02.2007 19:04
avatar  jemen
#2 RE: Kuba - MERIAN 1979: Das glänzende Elend des fröhlichen Havanna - Rien ne va plus
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super Mitglied

In Antwort auf:
Viele solide Geschäftsleute ließen es sich nicht nehmen, von Miami oder sogar von Denver und San Francisco nach Havanna zu reisen, um sich dort einmal richtig zu amüsieren

und heute kann sich auch das deutsche Prekariat amüsieren. Castro sei Dank. Er hat eben ein Herz für die kleinen Leute.


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