"Welche Literatur fürchtet Fidel Castro?"

17.11.2004 12:09
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#1 "Welche Literatur fürchtet Fidel Castro?"
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Rey/Reina del Foro

16.11.2004
"Welche Literatur fürchtet Fidel Castro?"
Der katalanische PEN diskutiert mit prominenten exilkubanischen Autoren
Von Gregor Ziolkowski


Liest auch mal ein Buch: Kubas Staatschef Fidel Castro (Foto: AP)

Die tief sitzende Angst der Diktatoren vor dem geschriebenen Wort hat eine verblüffend einfache Erklärung: Es sind die Diktatoren, die die Macht des Wortes sehr wohl zu schätzen wissen. Mit geschriebenen Worten sind sie selbst an die Macht gekommen, mehr hatten sie kaum. Zieht man etwa von Lenins Oktoberrevolution den - ohnehin geringfügigen - militärischen Anteil ab, so stellt man fest, dass die Ära der linken Diktaturen mit kaum mehr als Texten begann. "Das Kapital" und das "Kommunistische Manifest" im Hintergrund, ein paar klug platzierte "Aprilthesen" für die Aktualität, der Rest war in die Zukunft gerichtete Propaganda. Die ist so spekulativ wie jeder Text, und hier wohnt die Unsicherheit der Diktatoren: So, wie sie selbst einst profitiert haben von der mitreißenden Kraft, die die Texte plötzlich entfalten können, fürchten sie, von eben dieser Kraft eines Tages weggefegt zu werden.

Lenins gelehriger Schüler Fidel Castro hat diese Lektion gründlich gelernt, und so wie sein Lehrmeister 1921 kritische Geister in Hundertschaften aus dem Land wies, lässt auch der kubanische Comandante seine Autoren und Intellektuellen ziehen. Oder er steckt sie ins Gefängnis und ins Irrenhaus - hierin die Erfahrungen des Genossen Stalin nutzend. Die Frage: Vor welcher Literatur hat Fidel Castro Angst? kann folgerichtig nur eine sehr vielfältige Antwort finden.

Ich glaube, am meisten fürchtet er eine Literatur der Ideen, sagt Carlos Aguilera, der 2002 Kuba verließ, ein Jahr in Bonn zubrachte und seit 2003 in Graz lebt. Eine Literatur, die von den Bewegungen der Gedanken lebt, von deren Spiel, die versucht, die Grenzen des Bekannten etwas zu erweitern, und natürlich eine Literatur, die jene Theologie in Frage stellt, zu der die Ideologie sich in Kuba entwickelt hat.

Aguilera, der 1997 Mitbegründer der inoffiziellen Zeitschrift "Diásporas" war, die es auf acht Ausgaben brachte und in knapp 100 Exemplaren an jeglicher Zensur vorbei verteilt wurde, macht aber längst nicht halt bei solchen ästhetischen und ideologischen Angst-Kriterien. Eine publizistische Literatur, die sich erkennbar gründlich an ihren Kontext herangearbeitet hat, und eine autobiographische Zeugnis-Literatur versetzten das Regime ebenfalls in Schrecken. Es gehe dabei bei weitem nicht nur um die Literatur.

Das totalitäre System von Fidel Castro hat die kubanische Zivilgesellschaft so weit heruntergewirtschaftet, dass sie praktisch am Nullpunkt ist. Ich meine jenen zivilen Raum, in dem sich das Leben insgesamt abspielt. Die kleinen Geschäfte der Leute ebenso wie die Konflikte zwischen literarischen Gruppierungen, das Leben von Rockmusikern ebenso wie von Leuten, die sich in ihrem Elfenbeinturm wohler fühlen. Diese täglichen Konflikte, die sich in einer zivilen Gesellschaft völlig sichtbar, legal und real abspielen, existieren in Kuba praktisch nicht mehr. Alles ist von einer großen Blase umschlossen, und in der gilt nur das eine Wort und das eine Gesetz, das diese Leute erlassen haben.

Rolando Sánchez Mejías, der es in Kuba bis zum Funktionär in der Kulturbürokratie gebracht hatte, ehe er desillusioniert von der Reformunfähigkeit des Systems das Land verließ, lebt heute in Barcelona. Natürlich kennt er die linken Sympathien, die Castros Kuba aus Europa entgegenkommen.

Was im Konzert der Länder der Welt ein Symbol sein mag, ist für zwölf Millionen Menschen Wirklichkeit. Und die haben eine der höchsten Selbstmordraten der Welt, einen der höchsten Prozentsätze von Gefängnisinsassen, zwei Millionen Exilanten und zerstörte Familien, eine Wirtschaft am Nullpunkt und dazu Gesetze und Vorschriften, die die Bewegungsfreiheit nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb des Landes einschränken. Das ist ein Leben in einer großen Konfusion. Man meint, man führe sein eigenes Leben, aber in Wahrheit lebt man den Traum eines einzigen Mannes.

Es gehe nicht um literarische Konzepte oder Richtungen, sagt Sánchez Mejías, der literarische Betrieb und die Zensur seien hier nur ein sichtbares Element einer insgesamt schwer beschädigten Gesellschaft. Das ist ohne Zweifel eine richtige Analyse. Eine Hoffnung enthält sie allerdings nicht.

Quelle


Cuba-Reiseinfos
avenTOURa


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