Am Ende sind’s 60 Dollar

21.10.2004 09:45
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Am Ende sind’s 60 Dollar

Viele Länder Lateinamerikas haben ihre Rentensysteme privatisiert. Jetzt erweisen die sich als krisenanfällig

Von Anne Grüttner

Knapp neuneinhalb Millionen künftige argentinische Rentner haben Grund zur Sorge. Hilflos müssen sie zusehen, wie sich ein großer Teil ihrer in die privaten Rentenfonds eingezahlten Ersparnisse in rein virtuelles Kapital verwandelt. Denn rund zwei Drittel des Fondsvermögens der so genannten AFJP sind in argentinischen Staatsanleihen investiert. Die aber werden als Folge der Zahlungsunfähigkeit des südamerikanischen Staates seit Ende 2001 nicht mehr bedient. Entsprechend drastisch hat sich ihr Wert reduziert. Nun haben Regierung und private Rentenfonds sich darauf geeinigt, diese auf Dollar lautenden Anleihen in inflationsindexierte Peso-Papiere umzutauschen und die Laufzeit auf 42 Jahre zu verlängern. Um die durch den Umtausch entstehenden Verluste zu kaschieren, wird den Fonds erlaubt, die Papiere zum Nominalwert zu bilanzieren. Die Hoffnung dabei ist, dass sich der derzeit viel niedrigere Marktwert diesem Wert annähert, sollte sich die argentinische Wirtschaft in den nächsten Jahren weiter erholen.


ALTE MÄNNER IN ARGENTINIEN: Die Renten sind auch bei privaten Fonds nicht sicher
© Klaus Bossemeyer/Bilderberg

Das ist auch die einzige Chance auf eine halbwegs auskömmliche Rente, die den Fondssparern bleibt. Argentinien hatte 1994 auf Druck des Internationalen Währungsfonds und unter tatkräftiger Beratung der Weltbank als drittes lateinamerikanisches Land sein staatliches Umlagesystem, in dem die Renten jeweils aus den Beiträgen der aktuell Arbeitenden finanziert werden, weitgehend durch ein privates Rentensystem mit Kapitaldeckung ersetzt. Mittlerweile haben zwölf lateinamerikanische Länder solche Kapitaldeckungsverfahren eingeführt. Doch schon jetzt werden deren entscheidende Schwächen sichtbar.

Im Zuge der lateinamerikanischen Schuldenkrise in den achtziger Jahren hatten Inflation und staatliche Finanznot, steigende Lebenserwartung und sinkende Geburtenraten die ohnehin bestehenden Finanzierungsprobleme der staatlichen Rentensysteme noch zusätzlich verstärkt. In Argentinien etwa wurden statt der gesetzlich garantierten Renten in Höhe von 70 bis 80 Prozent der früheren Löhne nur noch Mindestrenten ausgezahlt, die kaum zum Überleben reichten. Der argentinische Staat schuldete 1991 sieben Milliarden Dollar an Renten und Pensionen. Doch nun zeigt sich, dass das als Allheilmittel gegen solche Krisen gepriesene private Rentensystem keineswegs krisenfest ist.

Die schwere Wirtschaftskrise, die zum Jahreswechsel 2001/02 in der Zahlungsunfähigkeit Argentiniens und einer massiven Abwertung des Peso mündete, brachte das neue kapitalgedeckte Rentensystem schon im achten Jahr seines Bestehens an den Rand des Kollapses. Nach Meinung vieler Experten hat dabei der Systemwechsel sogar einen guten Teil zur argentinischen Krise beigetragen. Beim Übergang vom staatlichen Umlageverfahren zu einem privaten, kapitalgedeckten System entsteht zwangsläufig ein Übergangsdefizit, weil der Staat die im alten System erworbenen Rentenansprüche weiter auszahlen muss, gleichzeitig aber sehr viel weniger oder gar keine Beiträge mehr einsammelt. In Argentiniens Krisenjahr 2001 etwa machte die Finanzierungslücke zwischen den Einnahmen des Staates aus den Rentenbeiträgen und den staatlichen Rentenauszahlungen nicht weniger als 2,9 Prozent des Sozialprodukts aus. »Die Erfahrung Argentiniens in den vergangenen Jahren hat gezeigt, dass das tatsächliche Übergangsdefizit im Kontext sinkenden Investorvertrauens und damit steigender Zinskosten beträchtliche Ausmaße annehmen kann«, folgert die Rentenexpertin Katja Hujo vom Lateinamerika-Institut an der FU Berlin. Aufgrund dieser besonderen Umstände ist Argentinien laut Weltbank allerdings auch das einzige der lateinamerikanischen Rentenreformländer, in dem die seit 2001 akkumulierten staatlichen Rentenschulden höher ausfielen, als es ohne Reform der Fall gewesen wäre.

»Im Rückblick haben die meisten Beobachter – der IWF, die Weltbank, lokale Kommentatoren und die Verwalter der neuen privaten Fonds – die potenziellen Vorteile des neuen Systems überbetont und die schweren haushaltspolitischen Konsequenzen nicht voll vorhergesehen«, kritisiert das unabhängige Evaluierungsbüro des IWF in einer jüngst veröffentlichten Analyse der Argentinien-Krise.

Argentinien widerlegte schließlich auch sehr eindrucksvoll den Mythos, dass die Renten in den privat verwalteten Rentenfonds besser gege⁄n den Zugriff des Staates geschützt seien. Weit gefehlt: In den meisten Ländern, die eine Rentenreform durchgeführt haben, nutzt der Staat das System wiederum als billige Finanzierungsquelle. Die privaten Pensionsfonds werden einfach dazu gezwungen, in Staatsanleihen zu investieren, manchmal sogar zu Zinsen unterhalb des Marktwertes. In den zwölf Ländern mit einem kapitalgedeckten Verfahren sind zwischen 50 und 97 Prozent der Rentenersparnisse in staatlichen Schuldpapieren investiert. Dies führte etwa im Fall Argentinien zwar zunächst zu hohen Renditen, da die Staatsbonds entsprechend ihres Risikos hoch verzinst sind. Im Falle einer Schuldenkrise aber werden auf diese Weise die privaten Rentenfonds genauso mitgezogen, wie es unter dem alten Umlageverfahren geschehen wäre. In einer Studie warnte die Weltbank jüngst vor den Folgen der »extremen staatlichen Einflussnahme« für die Glaubwürdigkeit des argentinischen Systems.

Das größte Problem der reformierten lateinamerikanischen Rentenversicherungen ist, dass die Systeme einen großen Teil der Bevölkerung schlicht nicht erfassen. Die Rentenreformen haben in dieser Hinsicht keinen Fortschritt gebracht. Der Anteil der Erwerbstätigen, die regelmäßig ihre Beiträge in die Rentenkassen einzahlen und entsprechend auf eine angemessene Altersrente hoffen dürfen, ist heute in allen Ländern mit Kapitaldeckungsverfahren entweder niedriger als kurz vor der Reform oder allenfalls genauso hoch. Das liegt daran, dass etwa Selbstständige oder informell Beschäftigte nur zu einem geringen Teil überhaupt jemals in die Rentenfonds einzahlen.

In Peru sind nur elf Prozent der Alten abgesichert

Bei Geringverdienern, Gelegenheitsarbeitern oder Menschen, die wegen Arbeitslosigkeit oder Krankheit viele Jahre nicht in die Rentenfonds einzahlen, reichen die Beiträge oft nicht für eine angemessene Altersrente aus. »In den meisten Ländern, die individuelle Rentenfonds eingeführt haben, ist der Deckungsgrad niedrig geblieben, und Fortschritte bei der Erhöhung der Deckungsraten gehen nur langsam oder gar nicht vonstatten«, gibt die Weltbank in ihrer Studie zu. Dabei lautete in den neunziger Jahren eines der Hauptargumente zugunsten der Reform, das Kapitaldeckungsverfahren biete wegen des direkten Zusammenhangs zwischen Beitragszahlungen und späteren Renten einen starken Anreiz zur Teilnahme.

Der Grad, zu dem die Bevölkerung durch die Altersversicherung abgedeckt ist, ist in den einzelnen Ländern extrem unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von immerhin 60 Prozent in Chile und Uruguay bis zu kläglichen elf Prozent in Bolivien und Peru. Das hängt mit der sozialpolitischen Geschichte der jeweiligen Länder zusammen. Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Kuba und Uruguay sind die Pioniere in Lateinamerika, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine beitragsfinanzierte Alterssicherung für Staatsangestellte und deren Familien nach dem Bismarckschen Modell eingeführt hatten. Diese Länder zeichneten sich durch einen höheren Entwicklungsstand, einen relativ hohen Grad der Industrialisierung und einen entsprechend großen formalen Sektor aus, was einen hohen Deckungsgrad zur Folge hatte. 1980 deckte das Rentensystem in diesen Ländern zwischen 62 und 87 Prozent der Erwerbstätigen ab, während in den übrigen, weniger entwickelten Ländern der Region im Durchschnitt nur etwa 30 Prozent eine Alterssicherung erwarten konnten. »Die historischen Tendenzen im Deckungsgrad sind nach der Reform grundsätzlich gleich geblieben«, schreibt Professor Carmelo Mesa-Lago von der Universität Pittsburgh in einer aktuellen Studie der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika.

»Auf Chile rollt eine Welle der Altersarmut zu«

Diejenigen, welche von dem Kapitaldeckungsverfahren gar nicht oder nur unzureichend erfasst sind, wird auch künftig der Fiskus in Form einer Mindestrente versorgen müssen. In Chile etwa zahlt der Staat die Differenz zwischen der privaten Rente und einer garantierten Mindestrente von derzeit etwa 120 Dollar monatlich, sofern die Betroffenen mindestens 20 Jahre lang Beiträge gezahlt haben. Wer weniger oder gar nicht in die Rentenfonds eingezahlt hat, bekommt im Alter nur eine Art Sozialrente – derzeit klägliche 60 Dollar pro Monat. »Auf den chilenischen Staat rollt eine Welle der Altersarmut und sehr hoher Ausgaben zu«, warnt Ernst Hillebrand, Repräsentant der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile. Bis 2015, so das chilenische Finanzministerium, könnten die Ausgaben für Mindestrenten auf bis zu 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen.

Ein weiterer Kritikpunkt am Kapitaldeckungssystem sind schließlich die gigantischen und sozial ungerechten Kosten. Im Durchschnitt gehen zwischen 20 und 30 Prozent der Rentenbeiträge für Verwaltungskosten drauf. Die Gebühren sind so strukturiert, dass Geringverdiener in der Regel übermäßig hoch belastet sind. In vielen Ländern sind Oligopole für die hohen Gebühren verantwortlich: Wenige Fondsverwalter teilen sich den Markt und setzen entsprechend willkürlich die Preise fest.

In vielen Ländern ist denn auch eine heftige Reformdiskussion entbrannt. Der chilenische Präsident Ricardo Lagos etwa hatte sich schon zu Beginn seiner ersten Amtsperiode 2000 ins Regierungsprogramm geschrieben, »das Rentensystem dahin gehend zu reformieren, dass der Deckungsgrad erweitert, die Fonds rentabler und die Kommissionen gesenkt werden«. Die chilenischen Reformen der vergangenen Jahre konzentrierten sich vor allem auf die Erhöhung der Rentabilität. Bisher können die chilenischen Rentenfonds AFP für ihre 23 Jahre Existenz eine Rentabilität von mehr als 10 Prozent vorweisen. Doch dies liegt vor allem an den extrem hohen Renditen im Zuge der Privatisierungen und Wirtschaftsreformen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Um die Rentabilität hochzuhalten, haben die AFPs heute mehr Finanzinstrumente zur Auswahl. Diskutiert werden zudem verschiedene Methoden, um Selbstständige sowie Geringverdiener und Gelegenheitsarbeiter in das System zu locken.

Radikaler verläuft die Reformdebatte in anderen Ländern. So verfehlte in Peru Ende 2002 eine Verfassungsänderung, die privat Rentenversicherten den Wechsel zurück zum staatlichen Umlageverfahren erlaubt und das Rentenalter von 65 auf 60 Jahre herabgesetzt hätte, nur knapp die nötige Kongressmehrheit. In der argentinischen Regierung zirkuliert seit 2003 ein Konzept, dass statt des bestehenden, größtenteils privaten Systems ein gemischtes Regime favorisiert, in dem zwei Drittel der Rentenbeiträge an eine staatliche Agentur und nur ein Drittel in private Rentenfonds fließen würden.

(c) DIE ZEIT 21.10.2004 Nr.44

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