Grüne Medizin auf der Roten Insel

11.07.2004 22:02 (zuletzt bearbeitet: 11.07.2004 22:03)
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Rey/Reina del Foro

Grüne Medizin auf der Roten Insel
Jantje Hannover

Havanna im Jahr 2004. Auf öffentlichen Plätzen und in Hinterhöfen wachsen mit Kompost gedüngte Zwiebeln und Tomaten, von den Balkonen der verfallenden Herrschaftshäuser gucken Zucchini und Paprika aus den Blumenkästen. Hühner picken nach Getreidekörnern, und manchmal steckt das Hausschwein seine Schnauze durch die Brüstung. »Agricultura Urbana« nennt sich das Modell, es wird staatlich gefördert und hat binnen kürzester Zeit den Hunger auf der roten Insel besiegt. Nach dem für Kuba katastrophalen Zusammenbruch des Ostblocks und der verschärften Wirtschaftsblockade durch die USA heißt die Devise: Wirtschaften mit dem, was die Insel hergibt. Statt Kunstdünger und Pestizide kauft man Regenwürmer, Kompost und Nützlinge; weil Treibstoff fehlt, produziert man gleich vor Ort. Aus der Krise heraus hat Kuba eine grüne Revolution angezettelt.

Und die hat schon längst das Gesundheitswesen erobert. Seit Anfang der 90er Jahre ist die kubanische »medicina verde« im Aufwind. Während Alternative Medizin in Europa und Nordamerika als Luxus gilt oder belächelt wird, präsentiert der Maximo Lider mit seinem Ministerio de Sanidad seit ein paar Jahren die grüne Medizin als neues Standbein des Gesundheitssystems. Von Homöopathie über traditionelle chinesische Medizin und Hypnose bis hin zur esoterisch angehauchten Bachblütentherapie ist dem Kubaner nichts fremd. Als Aspirin und Antibiotika nicht mehr den Weg über den Atlantik fanden, weil sich die Hersteller an die US-amerikanischen Boykott-Beschlüsse halten, begannen manche Hausärzte ihre Apotheken mit Weidenrindenextrakt gegen Kopfschmerzen und diversen pflanzlichen Entzündungshemmern aufzustocken. Auch gegen grippale Infekte, Magen-Darm-Probleme, Asthma, Rheuma, Kreislaufbeschwerden und Hautauschläge sind grüne Präparate zu haben. In den meisten Polikliniken kommen alternative Heilmethoden zumindest ergänzend zum Einsatz: Bei kleineren chirurgischen Eingriffen betäubt man immer häufiger mit Akupunktur. Auch zur Bekämpfung von Tumorschmerzen helfen die Nadeln aus China. Eine kubanische Spezialität ist dagegen die Mikrodosis: ein aus der Homöopathie abgegucktes Prinzip, bei dem klassische Medikamente wie Paracetamol extrem verdünnt werden. Die Wirkung ist offenbar zufriedenstellend.

In allen Provinzen des Landes verarbeiten neu errichtete Labore Heilpflanzen zu Medikamenten. Die landwirtschaftlichen Kollektive aus der Umgebung, früher auf den Export in die sozialistischen Bruderstaaten spezialisiert, bauen jetzt Ringelblume, Aloe Vera, Zitronengras und Oregano an. »Wir erfinden nicht alles neu,« sagt Nancy Vega, Direktorin einer Fabrik in Pinar del Rio, die 32 bewährte Präparate liefern kann. Das erfolgreichste Produkt ist allerdings eine Eigenkreation: Imefasma, ein Hustensaft aus Eukalyptus.

Tatsächlich wird in Sachen grüner Medizin auch fleißig geforscht. An der Universität in Havanna wurde ein eigener Lehrstuhl eingerichtet. 1800 Heilpflanzen sind in Kuba bekannt, nur für einen Teil davon liegen bisher abgeschlossene Forschungsarbeiten vor. Als Pilotprojekt gilt die Klinik für traditionelle und natürliche Medizin in Mantanzas. Hier lernen Parkinson-Patienten Tai-Chi, bekommen Asthmatiker homöopathische Mittel verabreicht, baden Rheumakranke im Fango-Schlamm. Auch Hypnosebehandlungen werden angeboten. Eine homöopathische Klinik ist mit italienischer Unterstützung in Guantanamo entstanden, außerdem besteht eine spezielle Abteilung im Hospital »10 de Octubre« in Havanna. Die Fernsehkanäle haben den Trend aufgenommen und strahlen Service-Sendungen mit Heilrezepten für den Hausgebrauch aus. Auf kaum eine der »Errungenschaften der sozialistischen Revolution« sind die Kubaner so uneingeschränkt stolz wie auf ihr Gesundheitswesen. Zu Zeiten des Kalten Krieges galt es als das beste in Lateinamerika, die Versorgung mit Ärzten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ist auch heute noch höher als in den USA oder in Schweden. Reiche Südamerikaner und auch Europäer lassen sich in kubanischen Spezialkliniken behandeln. Das bringt Devisen ins Land, von denen – angeblich – die medizinische Betreuung der eigenen Bevölkerung mitfinanziert wird. Die drei Säulen des Gesundheitssystems sind die unseren Hausärzten vergleichbaren Familienärzte in den Gemeinden, die ambulante und fachärztliche Betreuung in den Polikliniken und die stationäre Behandlung. Der Familienarzt wohnt in der Nachbarschaft, kennt meistens Familie und Probleme seiner Patienten und spielt mit zum Teil ausgedehnten Beratungen auch ein Stück weit den Psychotherapeuten. Schwierigere Fälle werden an die Polikliniken überwiesen, von denen es allein in Havanna 80 gibt. Während der sozialistischen Periode fand ein reger Austausch medizinischer Fachkräfte mit den befreundeten Staaten statt, wobei auch bestimmte Heilmethoden wie die traditionelle chinesische Medizin erlernt werden konnten. Zusätzlich haben kubanische Ärzte in anderen lateinamerikanischen Ländern in den Armenvierteln praktiziert, derzeit zum Beispiel in Venezuela.

»Was aus der Not geboren wurde, muß nicht schlecht sein,« findet Klinikdirektor Juventino Acosta aus Mantanzas. Er kämpft mit dem geringen Ansehen, das die pflanzlichen Pillen und Tropfen bei der Bevölkerung noch haben. Manche Kubaner befürchten, daß ihnen ein billiger Ersatz für »richtige Medizin« angeboten wird. Tatsächlich experimentiert Kuba ja nicht zuletzt aus Geldmangel mit alternativen Heilmethoden – die aus dem gleichen Grund hier in Deutschland aus dem Leistungskatalog gestrichen werden.

Jantje Hannover lebte zehn Jahre in der großen Kommune auf dem Ufa-Gelände und wurde dort Zirkusartistin. Inzwischen zur Journalistin ausgebildet, arbeitet sie für Hörfunk und Fernsehen und möchte nun einen Dokumentarfilm über die grüne Revolution in Kuba drehen.

Quelle: Ossietzky


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