Kehrseite I - Bericht aus Havanna
von aila

Zwei Monate des vergangenen Sommers verbrachte ich auf jener Insel, die mich seit meinem ersten Besuch im letzten Jahr nicht mehr losgelassen hat.

Soeben habe ich zufällig die Einführungsveranstaltung für die kubanischen ErstsemestlerInnen der Universität von Havanna miterlebt; „Viva Fidel! Viva Raúl! Viva la Universidad de la Habana!“, rief der Redner mit kubanischer Fahne und Ché-Shirt euphorisch, den rechten Zeigefinger lehrmeisterhaft in die Höhe reckend. „Viva. Viva.“, antworteten in euphoriefreier Manier die fast ausnahmslos in engen Jeans und schreiend bunten Tops gekleideten StudentInnen, ehe sie die Uni unter ohrenbetäubender, kitschig-propagandistischer Lautsprechermusik, die schnell von leichten, traditionell-karibischen Rhythmen unterbrochen wurde, verließen.

Es ist erschreckend, wie arglos die jungen StudentInnen hier wirken; wie leichtfüßig und lässig sie lachend und schwatzend über das Universitätsgelände gleiten, wie sie ihre neuen Kleider präsentieren, ihren Nebenmann küssen und herzen und in oberflächlichen Nichtigkeiten versunken sind – die permanente ideologische Indoktrination nicht (mehr?) wahrnehmend. Es scheint, Fidel hat sich diese jungen Menschen zur arglosen Geisel gemacht --- nicht hinterfragen, nicht auf Gerechtigkeit beharren, nicht umstürzen werden sie dieses System, das sie des Morgens in überfüllte Busse zwängt, krankheitserregendes Wasser trinken und fortwährend an das Auftreiben von Geld denken lässt, sondern sie werden wohl folgen, willenlos folgen wie die Schafsherde ihrem Schäfer – ohne die Anwesenheit des Jagdhundes zu spüren, der sie treibt. Oder ist alles nur Fassade? Ein zweckoptimistisches Als-Ob, um den nächsten Tag zu überstehen? Haben die Menschen hier bereits eine Art kollektive Schizophrenie entwickelt?

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http://www.strassenfeger.org/strassenfeg...e_2006-25/0015/