Spurensuche in Santiago (Matthias Politycki)

15.11.2005 11:02
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Spurensuche in Santiago

Matthias Politycki erzählt von Kuba und liest in der Stadtbibliothek Heilbronn aus seinem Roman "Herr der Hörner".

Eigentlich ist Matthias Politycki kein Kuba-Freak. Im Gegenteil, der Buena-Vista-Social-Club-Hype, der Europa vor einigen Jahren in einen neuen Kuba-Rausch stürzte, hat ihn eher entfernt von der Zuckerinsel, beteuert er.

Und doch tauchen er und sein müder, weißer Held in einer der interessantesten Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes tief ein in das brodelnde Leben Santiago de Cubas und in afrokubanische Riten. Eine Seelenverwandtschaft, zumindest Wahlverwandschaft möchte meinen, wer Matthias Politycki während der Matinee in der Stadtbibliothek Heilbronn erlebt. So wenig der Autor mit dem Protagonisten von Herr der Hörner (Hoffmann und Campe, 736 Seiten, 25 Euro) verwechselt werden möchte, so sehr darf man annehmen, dass Polityckis Recherchen vor Ort seinen Aussteiger Broder Broschkus schwer beeinflusst haben.

Zwischen Aktienoptionen, feinem Hamburger Überseeclub und einer langweiligen, doch gepflegten blonden Frau, ist das Leben von Broschkus, Anfang 50, Dr.rer.pol. und Privatbankier, ein halbherziges. Als ihn am Ende eines Pauschalurlaubs in Kuba Kristina in die laut Reiseführer berühmteste Kneipe schleppt und er in die Augen einer geheimnisvollen Schönheit blickt, hat Broschkus sein Schlüsselerlebnis. Auf dem Rückflug wird ihm die lange Liste der Unterlassungen und verpassten Chancen seines Lebens glasklar. Wenige Monate später hat er sein bürgerliches Leben abgewickelt und reist mit Scheckkarte und drei Zehnpeso-Scheinen, auf einem vermutet er eine verschlüsselte Botschaft der Unbekannten, zurück und mietet sich ein bei Luisito.

Immer tiefer verstrickt sich Broschkus im unfassbaren südlichen Kuba und seinen finstren Ritualen. Drastisch schildert Matthias Politycki eine Hausschlachtung, erzählt von Ritzungen und Totenbesteigung, von der kubanischen Spielart schwarzer Messen und des Voodoos, der Santéria, und von einem quicklebendigen Alltag, in dem der Tod stets gegenwärtig ist, während Broschkus in den Bannkreis des titelgebenden Herr der Hörner gerät, der Inkarnation des Teufels. Dass all dies mehr ist als ein cherchez la femme , ein alter Sack meets girl , wie der Autor kokettiert, vielmehr ein Entwicklungsroman, vielleicht die westeuropäische Variante eines phantastischen Realismus, war zu erwarten. Sprachfetischist Politycki, der über Nietzsche promoviert hat, pflegt komplexe Plots.

Geboren 1955 in Karlsruhe, lebt Matthias Politycki in Hamburg und München und gehört zu einer Generation von Autoren mittleren Alters, die sich lange behaupten mussten und müssen als Nachfolger und gegen die Deutungshoheit der Alt-68er, der Grass, Enzensbergers und Christa Wolfs. Im K 3 plauderten am Sonntag gleich zwei Vertreter der so genannten 78er Generation, also der in den 50er Jahren und bis Anfang 1960 Geborenen: Rainer Moritz, Leiter des Hamburger Literaturhaus und davor Programmchef bei Hoffmann und Campe, ist angereist, nicht nur um Polityckis Herr der Hörner vorzustellen, sondern um dem Lebensgefühl einer Generation nachzuspüren, die viele Jahre klein gehalten wurde von einer öffentlichen Wahrnehmung, die einen Peter Handke noch heute für ein großes Talent hält . An ihrem Werk sollten Autoren gemessen werden, nicht an ihrem Wahlkampfengagement für die SPD, sagt Politycki, der, statt dem Aufruf von Kollegen im Vorfeld der Bundestagswahl zu folgen, als Co-Autor von Relevanter Realismus von sich reden machte, einem Essay über die Relevanz von Literatur.

Was ein Buch zu einem guten macht? Es muss mehr sein als die Summe seiner Worte. Und es muss erschüttern, und nicht darunter .

15.11.2005 00:00

http://stimme.de/freizeit/kultur-news/art1935,657737.html?fCMS=94a869ca7b872f016b70952379accc88
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